»Dies also«, dachte er, »diese Straße, die ich kaum erkennen kann, weil so viel darauf wächst, ist die alte Staatsstraße 40 — die ›Ostküstenstraße‹. Früher hat sie sechs Fahrbahnen gehabt. Wir müssen also der Bucht-Brücke entgegenwandern.« Und dann schwand sein Wahrnehmungsvermögen wieder hin.
Noch ein anderes Geschehnis während dieses Morgenmarsches hob sich deutlich aus der Nebeldämmerung ab, die ihn umdrängte. Abermals hielten sie; aber diesmal setzten sie sich nicht hin. Die jungen Menschen riefen Jack, der ihn gerade trug, und als Ish über Jacks linke Schulter hinwegschaute, sah er den mit dem Speer gerade vor ihnen beiden; und rechts und links standen die beiden andern mit halbgespannten Bogen, den Pfeil schußfertig auf der Sehne. Die beiden Hunde duckten sich neben ihnen und knurrten tief. Als er weiter vorwärts schaute, sah Ish auf dem Wege einen großen Berglöwen.
Der Löwe kauerte bedrohlich auf der einen Wegseite, und auf der andern wichen die Menschen und die Hunde nicht vom Fleck. So blieb alles etwa ein Dutzend Atemzüge lang.
Dann sagte der mit dem Speer: »Er will nicht springen.« Er sprach ruhig, als bestätigte er lediglich eine Tatsache.
»Soll ich schießen?« fragte einer der andern.
»Sei kein Narr!« antwortete der mit dem Speer ohne die mindeste Erregung.
Sie gingen alle ein Stückchen zurück und machten nach rechts hinaus einen kleinen Umweg, wobei sie die Hunde unmittelbar neben sich hielten, so daß sie nicht davonlaufen und den Löwen beunruhigen oder reizen konnten. So umgingen sie den Löwen und überließen ihm den direkten Weg, vermieden also einen Zusammenstoß. Ish wunderte sich darüber. Soweit er sehen konnte, hatten die Menschen keine Furcht vor dem Raubtier, sondern vermieden lediglich den Zusammenstoß, und auf der anderen Seite schien auch das Raubtier den Menschen nicht zu fürchten. Vielleicht geschah das, weil jetzt keine Gewehre mehr benutzt wurden, oder vielleicht auch, weil es nur noch so wenige Menschen gab, daß der Löwe selten einen sah und sich nicht vorstellen konnte, wie gefährlich diese harmlos aussehenden Geschöpfe waren. Vielleicht aber hätten die jungen Menschen den Angriff gewagt, wenn sie nicht mit dem hilflosen alten Manne belastet gewesen wären.
Dennoch konnte Ish nicht umhin zu meinen, daß das alte Herrschaftsgefühl, der alte Hochmut, mit denen sie einst auf die Tiere herabgeblickt hatten, hingeschwunden waren, und daß sie die Tiere jetzt mehr oder weniger als ihresgleichen behandelten. Er hatte die Empfindung, als ginge das zu weit, und dabei setzten die jungen Menschen so unbefangen wie stets ihren Weg fort, trieben ihre Scherze und waren sich schwerlich bewußt, daß sie sich gedemütigt hatten, indem sie den Löwen umgingen, als hätte es sich darum gehandelt, einen umgestürzten Baum oder einem zerfallenen Gebäude auszuweichen.
Als er sich das nächstemal der Umwelt bewußt wurde, näherten sie sich der Brücke. Ishs Interesse erwachte, und wiederum wünschte er, daß er den jungen Menschen etwas von den Alten Zeiten erzählen könnte, über das Aussehen der Brücke, als nach beiden Richtungen hin der Verkehr darüber hingebraust war, als auf allen sechs Fahrbahnen Autos dahingeflitzt waren, so daß man keinesfalls lebendigen Leibes von einer Seite auf die andere hätte gehen können.
Jetzt aber schritten sie langsam die lange Auffahrt hinan und gelangten auf den ersten Bogen an der Ostbuchtseite. Ish bemerkte, daß die Brücke als Ganzes, obwohl rostbedeckt, noch unversehrt war. Nur das Pflaster war in schlimmem Zustand, und einige der Türme standen merklich schief.
An einer Stelle mußten sie mehrere Meter über einen einzelnen Träger gehen, weil das die einzige Möglichkeit zum Weiterkommen war. Wenn Ish vom Rücken des jungen Menschen aus niederschaute, konnte er tief unten die Wellen hin und her wogen sehen, und er nahm wahr, daß das Metall der Brücke dort, wo während all der Jahre das Salzwasser darauf gespritzt war, tief zerfressen war, sich gesenkt hatte und zu brechen drohte.
Dies ist die Straße, darauf keines Menschen Reise endet. Dies ist der Fluß, der so lang ist, daß kein Reisender zum Meere gelangt. Dies ist der Pfad, der sich zwischen Hügeln hindurchwindet und sich immer weiter windet. Dies ist die Brücke, die kein Mensch gänzlich überschreitet — glücklich, wer durch Nebel und Regenwolken das ferne, jenseitige Ufer dämmern sieht oder zu sehen glaubt.
Danach trübte Ishs Bewußtsein sich wieder, bis er schließlich erkannte, daß er auf etwas Hartem saß und an etwas Hartem lehnte und daß seine Füße sehr kalt waren. Dann merkte er, daß jemand ihm die Hände rieb, und er kam langsam zum Bewußtsein.
Er erkannte, daß er auf dem Brückenpflaster saß, mit dem Rücken gegen das Geländer. Das erste, was er richtig wahrnahm, war sein Hammer, der vor ihm auf dem Pflaster stand. Zwei der jungen Menschen rieben ihm die Hände, als versuchten sie, das Blut wieder hineinzutreiben. Auch die beiden anderen jungen Menschen waren da, und alle schienen sehr bestürzt.
Ish spürte, daß seine Füße und selbst der obere Teil der Beine kalt waren; oder vielleicht hatte sich schon alles Gefühl darin in eine Art Kälte aufgelöst, die man als tödlich bezeichnen konnte. Als sein Geist dann klarer wurde, erkannte er, daß es sich hier nicht nur um einen jener Schwächezustände handelte, wie sie das hohe Alter mit sich bringt, sondern daß er eine Art Anfall erlitten haben mußte, einen Schlag oder eine Herzkrise, und daß die andern sich ängstigten.
Er sah Jack die Lippen bewegen, als spreche er, und dennoch war nichts zu hören. Welch sonderbares Benehmen. Immer heftiger bewegten sich die Lippen, als rufe Jack. Dann merkte Ish, daß er selbst nichts mehr hören konnte. Der Gedanke war ihm nicht schmerzlich, sondern erfreute ihn eher, weil er wußte, daß die Außenwelt nun nicht mehr in ihn eindringen würde wie in die andern Menschen, die hören konnten.
Die anderen begannen zu sprechen, das heißt: sie bewegten die Lippen, und Ish merkte, daß sie versuchten, ihm unter allen Umständen und schier verzweifelt etwas zu sagen. Er schüttelte verwirrt den Kopf. Dann versuchte er, ihnen klarzumachen, daß er nicht hören könne; aber er merkte, daß er seine Zunge nicht mehr beherrschte. Das machte ihn tief betroffen, denn er bedachte, daß es eine üble Sache sei, in der Welt zu leben, wenn man sich nicht durch Sprechen mitteilen konnte und wenn niemand imstande war, zu lesen, was man geschrieben hatte.
Die jungen Menschen hatten ihm während des ganzen Tages viel Hochachtung und Freundlichkeit bezeigt. Jetzt aber gerieten sie außer sich und wurden zornig. Sie vollführten heftige Gesten, und Ish konnte erkennen, daß sie verlangten, er solle etwas tun, und daß sie zu fürchten schienen, er sei dazu nicht imstande. Sie deuteten auf den Hammer, aber Ish hielt es nicht für der Mühe wert, den mühevollen Versuch zu unternehmen, sie zu verstehen.
Bald indessen wurden die jungen Menschen dringlicher, und dann fingen sie an, ihn zu kneifen. Ish spürte den Schmerz, weil in seinem Körper noch Gefühl war, und er stöhnte, und es traten ihm Tränen in die Augen, obwohl er sich dessen schämte und die Empfindung hatte, so etwas gehöre sich nicht für den letzten Amerikaner.
»Es ist etwas Seltsames«, dachte er, »ein alter Gott zu sein. Sie verehren einen, und dennoch mißhandeln sie einen. Wenn du nicht willst, was sie wollen, dann zahlen sie es dir heim. Das ist nicht anständig.«
Als er dann mühselig nachdachte und ihre Gesten beobachtete, glaubte er, sie wollten ihn dahin bringen, daß er denjenigen bezeichnete, dem der Hammer übergeben werden sollte. Der Hammer war seit langer Zeit Ishs Eigentum, und es war ihm niemals von irgendeiner Seite zugemutet worden, ihn abzugeben; aber das kümmerte ihn jetzt nicht mehr, und überdies wollte er, daß sie mit dem Kneifen aufhörten. Er konnte noch die Arme bewegen, und so tat er durch eine Geste kund, daß der junge Mann namens Jack den Hammer haben sollte.
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