Bei ihrer beider Gespräche stellte Ish oftmals fest, daß in Ezra nach wie vor Weisheit steckte und daß er zu helfen vermochte.
»Ein Stamm ist wie ein Kind«, sagte er einmal mit seiner dünnen, piepsigen Greisenstimme, die von Tag zu Tag einer Vogelstimme ähnlicher wurde — und dann mußte er husten. Als er sich erholt hatte, sprach er weiter. »Ja, ein Stamm ist wie ein Kind. Das kann man an der Art ersehen, wie er größer wird; vielleicht kann man ihn dabei ein bißchen lenken; aber am Ende geht das Kind doch seine eigenen Wege, und der Stamm macht es genauso.«
»Ja«, sagte er an einem anderen Tage, »die Zeit klärt alles. Mir erscheint alles jetzt verständlicher als früher, und wenn ich noch hundert Jahre lebte, so würde mir vielleicht alles, was geschehen ist, ganz klar und einfach vorkommen.«
Oft sprachen sie über die anderen Amerikaner, die, die jetzt tot waren. Sie lachten, wenn sie des guten alten George gedachten, und Maurines mit ihrem piekfeinen Radio, das nie spielte. Sie lächelten, wenn sie auf Jean zu sprechen kamen und ihre Weigerung, zur Kirche zu gehen.
»Ja«, sagte Ezra, »mit der Zeit ist jetzt alles klarer geworden. Warum sie alle das Große Unheil überlebt haben, das werde ich nie herausbekommen. Aber ich glaube, ich kann erkennen, warum sie den Schock, der danach kam, überstanden haben, an dem so viele zugrunde gegangen sind. George und Maurine und vielleicht auch Molly, die haben weitergelebt und sind nicht verrückt geworden, weil sie dumm waren und keine Phantasie hatten. Und Jean hat weitergelebt, weil sie Charakter hatte und gegen das Leben ankämpfte; und ich, weil ich aus mir herausgehen und am Leben anderer Menschen Anteil nehmen konnte. Und du und Em …«
An dieser Stelle nun aber hielt Ezra inne, so daß Ish seinerseits sprechen konnte.
»Ja«, sagte Ish, »ich glaube, du hast recht … Und ich, ich habe weiterleben können, weil ich abseits gestanden und beobachtet habe, was geschah. Und Em …«
Nun hielt auch er inne. Und Ezra sprach weiter.
»Ja, so wie wir überlebt haben, so wird der ›Stamm‹ überleben. Er wird nichts Großartiges sein; denn großartig sind auch wir nicht gewesen. Vielleicht sind die Großartigen und Glänzenden zum Überleben ungeeignet … Was aber Em betrifft, so bedarf es keiner Erklärungen; denn wir wissen ja, daß sie die Stärkste von uns allen war. Ja, wir brauchten mancherlei. Wir brauchten George und sein Zimmermannshandwerk, und wir brauchten deinen vorausschauenden Geist, und vielleicht brauchten wir meinen Trick, die Leute dahin zu bringen, daß sie besser miteinander auskamen, obwohl ich selbst wenig dazu beigetragen habe. Aber meiner Meinung nach brauchten wir am meisten Em; denn sie flößte uns Mut ein, und ohne Mut ist das Ganze nur ein langsames Sterben, aber kein Leben.«
Es kam Ish vor, als schösse fast während ihres Dasitzens unter ihnen am Hügelhang ein schnell wachsender Baum auf, der schließlich den Ausblick auf die Meeresbucht verdeckte, wo die rostroten Türme der großen Brücke nach wie vor emporragten. Und dann schien nach einiger Zeit der Baum krank zu werden und umzufallen. Nun konnte er abermals von seinem Lieblingsplatz in der Sonne am Hügelhang aus in die Ferne schauen und die Brücke sehen. Einmal sah er, wie eine gewaltige Feuersbrunst in der Ruinenstadt jenseits der Bucht wütete, und er erinnerte sich, daß vor langer, langer Zeit, noch ehe er geboren war, jene Stadt schon einmal einem Brande zum Opfer gefallen war. Nun brannte sie schon eine ganze Woche hindurch, und der trockene Nordwind fachte die Flammen an; niemand war da, der dem Feuer hätte wehren können, niemand, der sich überhaupt darum kümmerte, daß es brannte. Als die Flammen erloschen, war nichts Brennbares mehr da.
Es kam eine Zeit, da selbst das Sprechen eine Mühsal schien. So saß Ish denn zumeist behaglich in der Sonne, und neben ihm saß ein noch älterer Mann, der hustete und immer magerer wurde. Man konnte kaum sagen, wie die Tage hingingen und wie viele Wochen lang es regnete, und selbst die Jahre schienen hinzuziehen, ohne daß die Menschen darauf achteten. Aber nach wie vor war Ezra da, und bisweilen dachte Ish heimlich: »Obwohl er hustet und hustet und immer dünner wird, wird er mich wohl überleben.«
Doch jetzt, da selbst das Sprechen zur Mühsal geworden war, wandte der Geist sich nach innen, und Ish überdachte sein sonderbares Leben. Was war denn schließlich der Unterschied? Auch wenn es kein Großes Unheil gegeben hätte, wäre er jetzt wohl Professor im Ruhestand, zockelte herum, holte sich ein paar Bücher aus der Bibliothek, in der Absicht, weiterzuforschen, einigermaßen zum Ärger der jüngeren Herren, die jetzt fünfzig und sechzig waren und die Lehrstühle der Fakultät innehatten; aber sie hätten den Studenten wohl loyal erklärt: »Das ist Professor Williams — der war mal ein großer Gelehrter. Wir sind sehr stolz auf ihn.«
Nun lagen die Alten Zeiten tiefer begraben als Ninive oder Mohenjadaro. Er selbst hatte alles zusammenbrechen und untergehen sehen. Doch sonderbarerweise war jener Zusammenbruch nicht imstande gewesen, seine Persönlichkeit zu zerstören. Er war der gleiche, der er als Professor im Ruhestand gewesen wäre, obwohl jetzt die Schatten seinen Geist immer mehr umhüllten, während er als der sterbende Patriarch eines primitiven Stammes auf einem einsamen Hügelhang saß.
Bisweilen geschah in jenen Jahren etwas sehr Seltsames. Die jüngeren Leute waren stets zu Ish gekommen und hatten sich Ratschläge geholt — obwohl die Schatten seinen Geist immer mehr umhüllten -; doch jetzt begannen sie, ihn aus anderen Gründen aufzusuchen. Mochte er nun am Hügelhang in der Sonne sitzen oder bei Regen und Nebelwetter in seinem Hause: sie kamen und brachten ihm kleine Gaben dar: eine Handvoll reifer Beeren, die er gern mochte, oder einen schimmernden Stein oder in der Sonne blitzende bunte Glasstückchen.
Wenn sie ihm etwas dargebracht hatten, stellten sie in aller Form eine Frage, während er dasaß und seinen Hammer hielt. Manchmal fragten sie, wie das Wetter werden würde, und darauf antwortete Ish gern. Er konnte noch auf seines Vaters Barometer schauen, und so vermochte er oft zu sagen — was die jungen Menschen nicht wissen konnten —, ob die niedrigen Wolken bald in der Sonnenwärme verschwänden oder ob sie ein nahendes Unwetter ankündigten.
Aber manchmal stellten sie ihm auch andere Fragen zum Beispiel, nach welcher Himmelsrichtung sie ausziehen sollten, damit die Jagd ergiebig war. Dann antwortete Ish höchst ungern; denn davon verstand er nichts. Aber wenn er nicht antwortete, waren die jungen Menschen unzufrieden, und dann zwickten sie ihn roh. Da ihm das weh tat, antwortete er, trotz seiner Unkenntnis. Er pflegte dann zu rufen: »Zieht südwärts!« oder »Jagt jenseits der Hügel!« Dann freuten sich die jungen Menschen und brachen auf.
Während jener Jahre gab es Tage, da er klar denken konnte; an anderen Tagen jedoch schien in allen Winkeln seines Gehirns dichter Nebel zu lagern. Doch als sie eines Tages kamen und ihn etwas fragten, war er klaren Geistes, und es fiel ihm ein, daß er ein Gott geworden sein müsse oder doch wenigstens ein Orakel, daraus ein Gott sprach. Dann gedachte er der weit zurückliegenden Zeiten, da die Kinder Angst gehabt hatten, den Hammer zu holen und da sie wissend genickt hatten, als er sagte, er sei ein Amerikaner. Dabei hatte er sich nie gewünscht, ein Gott zu sein.
Eines Tages saß Ish am Hügelhang in der Sonne, und nach einer Weile schaute er zu seiner Linken und gewahrte, daß dort niemand saß. Da erkannte er, daß Ezra, der gute Helfer, gestorben sei und daß nie wieder jemand neben ihm am Hügelhang sitzen würde. Bei diesem Gedanken umklammerte er den Stiel des Hammers, den er damals schon nur unter großer Anstrengung heben konnte, auch wenn er sich beider Hände bediente.
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