»Er wird ›Ein-Hand‹ genannt«, dachte er, »doch jetzt ist er für mich zu schwer. Aber jetzt ist er das Symbol eines Stammesgottes geworden, und er ist noch immer bei mir, nun alle andern, und selbst Ezra, gegangen sind.«
Weil der Schreck, der die jähe Erkenntnis, Ezra sei tot, begleitet hatte, ihn klarer denken und sehen ließ, schaute er helleren Auges um sich und nahm wahr, daß er auf dem Hang des Hügels an einer Stätte saß, die vor vielen, vielen Jahren ein gepflegter Garten gewesen und jetzt nur noch ein zertrampelter Platz mit hohem Gras inmitten emporgewucherter Büsche und hoher Bäume war, deren Gewirr halb zerfallene Häuser überragten.
Dann schaute er nach der Sonne und merkte, daß sie im Osten stand, nicht im Westen, wie er geglaubt hatte. Also rückte sie jetzt weiter nach Norden, und es mußte Mittsommer sein, während er gemeint hatte, es sei früher Frühling. Ja, in vielen Jahren, die er am Hügelhang gesessen hatte, hatte er den Zeitsinn eingebüßt, so daß das Wandern der Sonne von Osten nach Westen im Dahingleiten der Tage ihm fast das gleiche zu sein schien wie das Wandern der Sonne von Norden nach Süden im Dahingleiten der Jahreszeiten: er konnte beides nicht mehr unterscheiden. Dieser Gedanke bewirkte, daß er sich sehr alt und sehr traurig fühlte.
Vielleicht leitete diese Traurigkeit ihn wieder zu der anderen Traurigkeit, und er dachte:
»Ja, Em ist tot, und Joey, und selbst Ezra, mein Helfer, ist jetzt tot.«
Als er sich auf solcherlei Weise alles Geschehene ins Gedächtnis zurückrief, als er sich seiner Einsamkeit bewußt wurde, begann er leise zu weinen, denn er war ein sehr alter Mann, und was er tat, entzog sich seiner Kontrolle. Und er dachte: »Ja, nun sind sie alle tot! Ich bin der letzte Amerikaner!«
Ende des zweiten Zwischenkapitels, betitelt »Eilende Jahre«.
DRITTER TEIL
Der letzte Amerikaner
Wie lustig ist's im grünen Wald!
(Altes Lied)
Vielleicht geschah es am selben Tage, oder vielleicht war es nur derselbe Sommer, oder vielleicht sogar ein anderes Jahr … Als Ish aufschaute, sah er sehr deutlich, daß ein junger Mensch vor ihm stand. Der junge Mensch trug ziemlich saubere blaue Baumwollhosen mit blanken Kupferknöpfen und außerdem über den Schultern ein gegerbtes Fell, dessen scharfe Klauen niederbaumelten. In der Hand hielt er einen starken Bogen und über der Schulter einen Köcher, aus dem die gefiederten Enden von Pfeilen hervorschauten.
Ish blinzelte; für seine alten Augen war das Sonnenlicht zu grell.
»Wer bist du?« fragte Ish.
Der junge Mensch antwortete ehrerbietig: »Ich bin Jack, Ish, wie du doch ohnehin sehr wohl weißt.«
Die Art, wie er »Ish« sagte, deutete durchaus nicht an, daß er versuchte, unziemlich vertraut mit einem alten Manne zu tun, indem er ihn mit einem Spitznamen anredete; es lag darin vielmehr hohe Achtung und selbst Ehrfurcht, als bedeutete »Ish« sehr viel mehr als nur der Name eines Greises.
Doch Ish war verwirrt, und er schielte, als er eindringlich zu spähen versuchte; denn auf kurze Entfernungen verschwamm alles vor seinen Augen. Aber er wußte genau, daß Jack dunkles Haar hatte oder vielleicht jetzt angegrautes, und dieser hier, der sich als Jack bezeichnete, hatte langes, wehendes, gelbes Haar.
»Du solltest mit einem alten Manne keine Scherze treiben«, sagte Ish. »Jack ist mein ältester Sohn, und den würde ich erkennen. Er hat dunkles Haar, und er ist älter als du.«
Der junge Mensch lachte, aber höflich, und sagte: »Du sprichst, Ish, von meinem Großvater, wie du doch ohnehin sehr wohl weißt.« Wieder schwang in der Art, wie er »Ish« sagte, ein seltsamer Unterton mit, und nun wurde sich Ish auch der sonderbaren Worte bewußt, die der junge Mensch wiederholte: »Wie du doch ohnehin sehr wohl weißt.«
»Bist du einer von den ›Ersten‹?« fragte Ish, »oder einer von den ›Andern‹?«
»Von den ›Ersten‹«, sagte er.
Als Ish ihn weiter prüfend anschaute, machte es ihn betroffen, daß der junge Mensch, der offensichtlich kein Kind mehr war, einen Bogen statt eines Gewehrs trug.
»Warum hast du kein Gewehr?« fragte er.
»Gewehre sind hübsche Spielzeuge!« sagte der junge Mensch, und er lachte, vielleicht gar ein wenig verächtlich. »Auf ein Gewehr ist kein Verlaß, wie du, Ish, doch ohnehin sehr wohl weißt. Manchmal geht das Gewehr, und dann macht es das laute Geräusch, aber zu anderen Malen drückt man ab, und es macht nur ›klick‹« Er schnalzte mit den Fingern. »Darum sind Gewehre für die richtige Jagd untauglich, wenn auch die älteren Leute sagen, vor langer, langer Zeit sei das anders gewesen. Jetzt nehmen wir Pfeile, weil das sicherer ist und weil sie stets losfliegen, und außerdem«, hier richtete der junge Mensch sich stolz auf, »bedarf es der Kraft und der Geschicklichkeit, mit dem Bogen zu schießen. Mit einem Gewehr schießen, so heißt es, das kann jeder, wie du, Ish, ohnehin sehr wohl weißt.«
»Zeig mir mal einen Pfeil«, sagte Ish.
Der junge Mensch nahm einen Pfeil aus dem Köcher, sah ihn an und reichte ihn Ish.
»Es ist ein guter Pfeil«, sagte er. »Ich selbst habe ihn geschnitzt.«
Ish betrachtete den Pfeil und fühlte, wie schwer er war. Das war kein Kinderspielzeug. Der Schaft war fast einen Meter lang und säuberlich aus fehlerlosem, gerade gewachsenem Holz geschnitzt und gerundet und geglättet. Er war gut gefiedert, mit irgendwelchen Schwungfedern; Ish konnte nicht mehr gut genug sehen, um zu erkennen, welcher Vogel seine Federn dazu hatte hergeben müssen. Aber er konnte sich durch Betasten davon überzeugen, daß die Federn sorgfältig angebracht waren, so daß der Pfeil sich im Fluge drehend fortbewegen konnte wie eine Gewehrkugel und dabei die Richtung innehielt und eine größere Tragweite besaß.
Dann untersuchte er die Pfeilspitze, abermals mehr mit den Fingerspitzen als mit den Augen. Die Pfeilspitze war vorn und an den Seiten sehr scharf. Fast hätte Ish sich in den Daumen gestochen. Sie war höckerig und dennoch glatt, woraus er erkannte, daß sie aus gehämmertem Metall bestand. Zwar konnte er nicht richtig sehen; aber er merkte doch, daß die Farbe silberhell war.
»Woraus besteht die Spitze?« fragte er.
»Aus einem der kleinen runden Dinger. Es sind Gesichter drauf. Die alten Leute haben dafür einen Namen, aber daran erinnere ich mich nicht ganz genau.«
Der junge Mensch hielt inne, als müsse Ish ihm das richtige Wort sagen; doch als er keine Antwort erhielt, redete er weiter, begierig, seine Fachkenntnisse über Pfeilspitzen an den Mann zu bringen.
»Wir finden diese kleinen runden Dinger in den alten Gebäuden. Manchmal liegen viele, viele in Büchsen und Schubfächern. Manchmal sind sie eingewickelt und sehen wie kurze runde Stöcke aus; sie sind aber schwerer als Stöcke. Manche sind rot und manche sind weiß, wie dieses hier, und von den weißen gibt es zwei Arten. Auf der einen Art von den weißen ist das Bild eines Bullen mit einem großen Höcker; die benutzen wir nicht, weil sie sich so schwer hämmern lassen.«
Ish dachte nach und glaubte, daß er verstünde, was gemeint war.
»Und dies weiße hier?« fragte er. »War eine Prägung darauf — ein Bild?«
Der junge Mensch nahm Ish den Pfeil ab, schaute ihn an und gab ihn zurück.
»Auf allen sind Bilder«, sagte er. »Ich habe nur sehen wollen, ob ich noch erkennen kann, was für ein Bild auf diesem war. Es ist durch das Hämmern nicht ganz verschwunden. Es war eins von den kleinsten Stücken, und es war ein Bild von einer Frau darauf, der Flügel aus dem Kopfe wachsen. Auf manchen sind Bilder von Falken — aber es sind gar keine richtigen Falken!« Die Stimme des jungen Menschen klang sehr glücklich. »Auf anderen sind Männer; wenigstens sehen sie aus wie Männer — einer hat einen Bart, und dem einen hängt das Haar hinten lang herunter, und einer hat ein strenges Gesicht, keinen Bart, kurzes Haar und kräftige Kiefer.«
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