Er erwachte im hellen Tageslicht. Als er seine Hand untersuchte, stellte er fest, daß der Schmerz von dem Schlangenbiß her sich bis auf eine örtliche Empfindlichkeit verflüchtigt hatte. Auch sein Kopf war klar, und er spürte, daß die andere Krankheit, sofern es eine andere Krankheit und nicht eine der Folgen des Schlangenbisses gewesen war, sich gleichfalls gebessert hatte. Dann stutzte er plötzlich, als ihm etwas einfiel, das er zuvor nicht bedacht hatte. Der Gedanke lag nahe, daß auch er von der neuen Seuche ergriffen gewesen war und daß sie gegen das Schlangengift in seinem Blute angekämpft hatte, in der Weise, daß das eine das andere neutralisierte. Zumindest stellte das die einfachste Erklärung dafür dar, daß er noch am Leben war.
Während er ausgestreckt auf der Couch lag, empfand er eine große Ruhe. Die einzelnen Teile des Puzzlespiels fingen jetzt an, auf die Stellen zu rücken, auf die sie gehörten. Die beiden Männer, die, von panischem Entsetzen gepackt, davongelaufen waren, als sie in der Hütte einen Kranken hatten liegen sehen — sie waren lediglich arme Flüchtlinge gewesen, voller Furcht, daß die Seuche sie bereits überholt habe. Das Auto, das in der Dunkelheit auf der Straße vorübergesaust war, hatte weitere Flüchtlinge befördert; vielleicht waren es gar die Johnsons gewesen. Der aufgeregte Collie hatte versucht, ihm zu sagen, im Kraftwerk seien seltsame Dinge geschehen.
Doch als er so dalag, schuf ihm nicht einmal der Gedanke allzu große Unruhe, daß er vielleicht der einzige lebende Mensch sei, der auf der Erde zurückgeblieben war. Möglicherweise rührte das daher, daß er während der letzten Zeit nur wenige Menschen zu Gesicht bekommen hatte, so daß das Erschreckende dieser neuen Vorstellung ihn weniger hart traf als jemand, der seine Mitgeschöpfe ringsum hatte sterben sehen. Überdies aber konnte er letztlich nicht glauben, und er hatte auch keinen überzeugenden Grund für diese Annahme, daß er der einzige überlebende Mensch auf der Erde sei. Der letzte Zeitungsbericht gab an, daß die Bevölkerung sich bloß um ein Drittel vermindert habe. Die Evakuierung einer kleinen Stadt wie Hutsonville bewies lediglich, daß die Bevölkerung nach irgendeinem andern Zentrum abgewandert war. Bevor er über die Vernichtung der Zivilisation und das Aussterben der Menschheit auch nur eine Träne vergoß, mußte er herauszubekommen suchen, ob die Zivilisation tatsächlich vernichtet und die Menschheit ausgestorben war. Das erste, was zu tun ihm als seine Aufgabe erschien, war, in das Haus zurückzukehren, wo seine Eltern gelebt hatten — oder, wie er hoffte, wohl noch immer lebten. Nachdem er auf diese Weise einen festen Tagesplan entworfen hatte, überkam ihn eine ruhige Genugtuung, wie stets, wenn er aus wirren Gedanken zu einer zeitweiligen Gewißheit gelangt war.
Er stand auf, suchte nochmals beide Wellenbereiche des Radios durch, und abermals ohne Ergebnis.
Er ging in die Küche; als er die Tür des Kühlschranks öffnete, merkte er, daß er noch in Tätigkeit war. In den Fächern stand eine hübsche Auswahl von Nahrungsmitteln, obwohl nicht in der Menge, wie er es erwartet hatte. Augenscheinlich waren die Vorräte schon ein bißchen knapp geworden, als die Bewohner das Haus verließen, die Speisekammer war verhältnismäßig kümmerlich ausgestattet. Doch fanden sich ein halbes Dutzend Eier, fast ein Pfund Butter, ein bißchen Speck, ein paar Salatköpfe, eine kleine Sellerieknolle und ein paar Reste. Als er im Schrank nachschaute, fand er eine Dose Grapefruit-Saft; in der Brottrommel lag ein Laib Brot, das zwar trocken, aber nicht ungenießbar war. Er schätzte, daß es seit fünf Tagen da gelegen hatte, und so bekam er eine deutliche Vorstellung von dem Zeitpunkt, zu dem die Stadt wahrscheinlich verlassen worden war. Mit solcherlei Vorräten hätte er als erfahrener Zeltwanderer draußen über einem offenen Feuer eine vortreffliche Mahlzeit bereiten können; doch er schaltete den Elektro-Herd ein und spürte, daß die Platten Hitze auszustrahlen begannen. Wie stets, wenn er vom Gebirge herunterkam, hatte er Hunger auf frisches Grün, und so fügte er denn dem gewohnten Frühstück, Eier auf Speck und Kaffee, einen gehörigen Salatkopf hinzu.
Dann ging er wieder zur Couch, bediente sich aus der roten Lackdose auf dem danebenstehenden Tischchen und rauchte als Nachtisch eine Zigarette. Bis jetzt, so überlegte er, bot die Fristung des Lebens keinerlei Schwierigkeiten.
Die Zigarette war nicht einmal ausgetrocknet. Nach einem guten Frühstück und bei einer guten Zigarette ging es einem nicht eben übel. Bis jetzt war ihm die Ungewißheit eine Qual gewesen, und er beschloß, ihr nicht nachzugeben, solange er nicht genau wußte, welche Notwendigkeit dazu bestand.
Als er die Zigarette zu Ende geraucht hatte, fiel ihm ein, daß nicht einmal die Notwendigkeit bestand, das Geschirr abzuwaschen; aber da er von Natur ordnungsliebend war, ging er in die Küche und überzeugte sich, daß die Kühlschranktür geschlossen und der Elektro-Herd abgeschaltet war. Dann nahm er den Hammer, der sich bereits als nützlich erwiesen hatte, und ging durch die zertrümmerte Haustür hinaus. Er stieg in seinen Wagen und begann die Heimfahrt.
Ein paar Kilometer hinter der Stadt kam der Friedhof in Sicht. Es fiel Ish ein, daß ihm während des vorhergegangenen Tages der Friedhof nicht in den Sinn gekommen war. Ohne den Wagen zu verlassen, stellte er eine lange Reihe neuer Einzelgräber fest, und er bemerkte auch einen Bagger neben einem großen Erdhaufen. Wahrscheinlich, so schloß er daraus, waren nicht allzu viele Menschen übriggeblieben, die Hutsonville schließlich hatten verlassen können.
Hinter dem Friedhof senkte sich die Straße hinab in flaches Gelände. Das Bedrückende der Leere überkam ihn wieder; er wünschte, es möchte doch wenigstens ein einziger ratternder Lastwagen über die vor ihm liegende Bodenwelle kommen; doch es kam kein Lastwagen.
Zusammen mit einigen Pferden standen ein paar junge Ochsen auf einem Felde. Sie wehrten mit den Schwänzen die Fliegen ab, wie an jedem beliebigen heißen Sommermorgen. Über ihnen drehten sich die Flügel einer Windmühle langsam im leichten Wind, und um den Wassertrog herum wuchs ein Fleckchen Grün, und der schlammige Boden war zertrampelt; es war, wie es von je gewesen war — und nichts sonst.
Doch auf der Straße, die von Hutsonville wegführt, hatte niemals viel Verkehr geherrscht, und er hätte auch an jedem anderen Morgen viele Kilometer fahren können, ohne jemandem zu begegnen. Anders war es, als er auf die große Hauptstraße kam. An der Kreuzung brannten noch die Lichter, und mechanisch schickte er sich zum Anhalten an, als er sah, daß das Licht rot war.
Aber wo auf den vier Fahrbahnen Lastwagen und Autobusse und Personenwagen hätten in großer Zahl dahinsausen müssen, war nichts als Leere. Nachdem er einen kurzen Augenblick angesichts des roten Lichts gehalten hatte, fuhr er unter ihm hindurch, wobei ihn ein leises Gefühl des Unrechttuns beschlich.
Doch dahinter war auf der Hauptstraße, auf der er alle vier Fahrbahnen für sich hatte, alles noch geisterhafter denn zuvor. Ihm war, als fahre er in einer Art halber Betäubung, aus der ihn nur dann und wann ein besonderes Geschehnis auftauchen ließ das in sein Bewußtsein eindrang …
Etwas lief auf der inneren Fahrbahn vor ihm her. Fast genau von hinten fuhr er darauf los. Ein Hund? Nein, er sah die spitzen Ohren und die hellen, mageren Beine, die graugelblich waren. So sah kein Bauernköter aus. Es war ein Kojote, ein Präriewolf, der in aller Ruhe und im vollen Tageslicht die Hauptstraße entlanglief. Sonderbar, wie rasch er erkannt hatte, daß die Welt anders geworden war und daß er sich nach Belieben der neuen Freiheit bedienen konnte! Er fuhr näher an das Tier heran und hupte, und der Wolf lief ein bißchen schneller, wechselte auf die andre Fahrbahn und verschwand dann über die Felder, ohne daß ihm irgendwelche Unruhe anzumerken gewesen wäre …
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