»Sie könnten Verstärkung bekommen.«
»Kaum. Wir haben Leute an jedem Bahnhof und jedem Flugfeld östlich von Tilson.«
»Wie viel Zeit gewinnen wir dadurch?«
Der Grenzer zuckte die Achseln.
War das von Belang? Nein, natürlich nicht. Die Lawine war losgetreten.
Gedämpftes Tageslicht berührte die Gipfelkette. Als Guilford den Kamm überschritt, sah er das Chaos. Das Tal lag noch im Dunkeln, weißer Nebel fingerte durch die Straßen. Einem Trupp von Männern, zu denen der ehrwürdige Erasmus zählte, war es gelungen, sich mit ihrem Sammelsurium an schweren Kanonen, Haubitzen und Mörsern in Schussweite der ersten Gebäude zu verschanzen, und die Dämonenfestung noch vor Tagesanbruch unter Beschuss zu nehmen.
Inzwischen hatte sich der Feind allerdings von der Überraschung erholt; die Westflanke lag unter heftigem Beschuss.
Gleichzeitig kamen Guilford und knapp zweihundert andere Alte Männer den Nordhang herunter. Das Riedgras, das hier Halt gefunden hatte, und die Brocken, die aus der steilen Talwand gebrochen waren, boten herzlich wenig Deckung. Das Gelände hatte nur einen Vorteil: Es war schwer zu befestigen gewesen.
Das eigentliche Ziel lag noch in hoffnungsloser Ferne: der Brunnenschacht, in dem das Bewusstsein Tausende halb inkarnierter Dämonen gefangenhielt… und auch an diesen Krieg erinnerte sich Guilford…
Weil ich bei dir bin, erinnerte ihn sein Geist.
Guilford trug ihn jetzt in sich, den Wachsoldaten. Wenn es ihm oder einem seiner Waffenbrüder gelang, seinen persönlichen Geist zum Brunnen zu bringen, konnten die Dämonen wieder gebannt werden.
Kaum dass er den Gedanken zu Ende gedacht hatte, eröffnete ein Heckenschütze das Feuer. Aus den verkrüppelten Moscheebäumen, die sich an den Steilhang klammerten, ratterten Salven einer automatischen Waffe…
Auch Guilford wurde getroffen.
Er spürte, wie ihn die Kugeln durchbohrten. Die Wucht der Einschläge warf ihn zu Boden. Krabbelnd suchte er Deckung hinter ein paar verkümmerten Bäumen.
* * *
Der Vormarsch stockte, während man den Heckenschützen mit einem Granatwerfer auszuschalten versuchte. Guilford stierte auf die Wunden von Tom Compton. In der rechten Schulter des Grenzers klaffte eine v-förmige Wunde und links unter dem Brustkorb gähnte ein Loch.
In den Wunden war kein blutiges Gewebe zu sehen, sondern etwas viel Feineres und Groteskeres, ein leuchtendes Medium, als sei der Leib des Grenzers inwendig eine erstarrte Flamme.
Loses Fleisch, dachte Guilford, und sein Geist scheint durch.
Widerstrebend nahm er sich selbst in Augenschein.
Es hatte ihn schwer erwischt. Brust und Bauch waren offen, die Kleidung verkohlt. Sein Rumpf glomm wie eine wildgewordene Partylaterne. Eigentlich hätte er tot sein müssen. War es vielleicht auch. Er schien weder Blut noch Eingeweide noch Fleisch zu besitzen, nur dieses heiße, pulsierende Licht.
Lauter Zahlen, dachte er. Lauter seltsame, unergründliche Zahlen.
Er blutete nicht, spürte aber sein Herz in der offenen Brust. Es hämmerte wie verrückt. Auch das nur Einbildung? Vielleicht war er zwanzig Jahre lang tot gewesen… oft war ihm das so vorgekommen. Einatmen, ausatmen, Hammer heben, Schraubenschlüssel ziehen; Liebe meiden, Freundschaft meiden, ausharren…
Ein paar Zoll von seinem Ohr entfernt peitschten Kugeln in den steinigen Boden.
Du wusstest, der Tag würde kommen. Kein Aufschub mehr.
»Sie bringen uns um«, murmelte er.
»Nein«, sagte Tom. »Das glaubt dieser Heckenschütze vielleicht. Du weißt es besser. Die töten uns nicht, Guilford. Die können nur töten, was sterblich ist.« Er zuckte zusammen, als er sich umdrehte. »Die sind dabei, unsere Götter auszubrüten.«
»Es tut verdammt weh«, sagte Guilford.
»Du sagst es.«
* * *
Den ganzen langen Morgen erinnerte er sich zu lebhaft an zu vieles.
Er rollte über eine Brombeerhecke aus Stacheldraht, verfing sich mit dem Fuß in einem langen Wurzelausläufer, stürzte noch etliche Yards und landete um Armeslänge von seinem Gewehr entfernt. Nacktes Gestein schürfte ihm die Wange auf. Er hatte den Rand der Stadt erreicht.
Ich war das, dachte er, im Bois Belleau; ja, ich entsinne mich. O Herr Jesus: das Weizenfeld voller Mohnblumen und überall fielen die Männer, die Verwundeten überließ man den Sanis, die noch nicht gefallen waren, Schreie über dem Geschützdonner und bitterer, wallender Rauch… Seht uns an, dachte Guilford. Beinah zweihundert halbmenschliche alte Männer waren hinter ihm, in Staubmänteln aus Wollschlangenhaut und Arbeitsanzügen, mit Schlapphüten statt Helmen und faustgroßen Löchern, wo die Kugeln ihre Leiber durchschlagen hatten. Unsterblich waren sie noch nicht. Der Leib als Gefäß ertrug nur ein gewisses Ausmaß an Schmerz und Wunder. Manche Verletzungen waren tödlich; manche Männer lagen leblos im Steilhang, so tot wie die Männer im Bois Belleau.
Guilford hatte viel Fleisch verloren und setzte in leichten Sprüngen zwischen den erodierten Mausoleen voran.
Er hat mich die ganzen Jahre regelrecht zugeritten.
Doch wir sind ein und derselbe.
Sind wir nicht.
Erinnerung dampfte aus der Dämonenstadt.
Einst waren diese Bauwerke weiß und rein wie Marmor gewesen, angefüllt mit Lebensmitteln und von einer unfreiwillig bösen und ungeheuer kraftvollen Spezies bewohnt, wohlgehegten Instrumenten, um die Archivzeit mit Psileben zu durchsetzen. Hirnlose Baumeister, die wie Insekten lebten. Als ausgewachsene Kreaturen in den Born der Schöpfung geschickt, waren sie ihm als sterbliche Götter entstiegen.
Das war nur ein Pfad in die Ontosphäre des Archivs. Es gab Tausende solcher Eintrittspunkte. Psileben war ebenso unerbittlich wie erfinderisch.
Ich habe sie mit eigenen Augen gesehen und sie haben mir Angst gemacht: Herrgott, wovor hat jemand Angst, der zwischen den Sternen lebt?
Ich erinnere mich an Caroline, dachte er grimmig. Ich erinnere mich an Lily. Ich erinnere mich an Abby und Nicholas.
Ich entsinne mich, wie Blut aussieht, das sich mit Regen und Erde vermischt.
Ich entsinne mich eines blauen Himmels unter einer Sonne, die vor einer Milliarde Jahren erloschen ist.
Ich entsinne mich zu vieler Himmel.
Zu vieler Welten.
Er entsann sich wider Willen der abertausend Byzanzen der greisen Milchstraße.
Er drang tiefer in dieses weitläufige Ruinenfeld vor, Bereiche, in die nicht einmal die Mittagssonne drang, wo die Schatten in Ozeane aus Finsternis mündeten.
Sterbe ich?, dachte er.
Was hieß schon sterben in einer Welt, die aus lauter Zahlen bestand?
Tom Compton schloss sich ihm an, die beiden Männer gingen ein Stück weit Seite an Seite. »Halt die Augen offen«, sagte der Grenzer. »Sie sind dicht vor uns.«
Guilford ließ von den Sternen ab und konzentrierte sich auf gemeißeltes, erodiertes Gestein.
Der Geruch, dachte er. Penetrant. Wie Lösungsmittel. Wie etwas, das gründlich verdorben war. Vor ihm, wo der Nebel sich lichtete, sah er den glänzenden Körper und die messerscharfen Scheren des Feindes.
»Zeig dich nicht«, flüsterte Tom Compton. »Wir sind zu dicht vor dem Ziel, um einen Kampf zu riskieren.«
* * *
Vor zehntausend Jahren, so die Zeitrechnung der Ontosphäre, waren die Dämonen in ihrem Brunnen gebannt worden.
Ihre irdischen Inkarnationen waren Tiere. Das Psileben hatte gefährlichen Code in ihre DNS geschrieben, doch eine Gefahr für das Archiv wurden sie erst, wenn sich die Dämonen ihrer bemächtigten. Als Gott hatte Guilford mit ihnen gekämpft, unsichtbar und kraftvoll wie der Wind.
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