In eben diesen kraftvollen Körpern wollten sie aus dem Brunnen steigen, und die Männer, die ihn verteidigten, die Marionetten derselben monistischen Logik, würden anfangen, fremden genetischen Programmen zu gehorchen.
Nur dass sie es früher taten als die Dämonen erwartet hatten. Neue Turingmaschinen hatten das Tuning gesprengt. Der Feind stolperte über seine eigene, schwerfällige Metamorphose.
Doch es half alles nichts: Ein Saat-Bewusstsein musste seinen uralten Geist in die Tiefen des Brunnens tragen.
Guilford Law spürte die Angst des sterblichen Guilford — die letztlich seine eigene war. Ihm tat diese überforderte Kopie seiner selbst Leid, diese unfreiwillige Achse, um die sich die Welt drehte.
Nur Mut, kleiner Bruder… hallte es zwischen Guilford und Guilford und verlor sich wie ein Lichtstrahl zwischen schadhaften Spiegeln.
* * *
Die von Dämonen besessenen Männer — selbst diejenigen, die so sehr deformiert waren, dass sie kein Gewehr mehr handhaben konnten — waren dennoch eine tödliche Bedrohung. Guilford spürte die enorme Energie, die aufgewendet wurde, um ihn trotz seiner verheerenden Verletzungen am Leben zu halten.
Das Artilleriefeuer im Westen hatte nachgelassen. Die Munition wird knapp, dachte Guilford. Jetzt wird Mann gegen Mann gekämpft.
Im Winter war die Stadt ganz anders gewesen, als Tom und Sullivan neben ihm hergestapft waren, die eigene Stimme und die der Gefährten, das traurige Bellen der Wollschlangen und die weichen Kurven des Schnees, damals, als sie noch so naiv gewesen waren, an eine vernünftige und einleuchtende Welt zu glauben.
Er dachte mit Wehmut an Sullivan, der sich den Kopf über das Wunder von Darwinia zerbrochen hatte… das gar keines war, das lediglich einer Technik entsprang, die so ungeheuer fortgeschritten war, dass kein Mensch sie verstanden oder auch nur in Betracht gezogen hätte. Mit dieser Spukwelt hätte Sullivan nichts anfangen können, dachte Guilford. Ebensowenig Preston Finch; mit Zweiflern und Eiferern hatte diese Welt nichts im Sinn.
In der Nähe ratterten Handfeuerwaffen. Tom Compton blickte über die Schulter und winkte ihn die moos-verschorfte Mauer entlang. Der klare Morgenhimmel war bleiernen Haufenwolken und Regenschauern gewichen. In der Düsternis glühte der verwüstete Leib des Grenzers, schwach nur, wie Kerzenschein. Warum kein Schild um den Hals, dachte Guilford. Endlich umbringen. Wir leben noch.
Aber der Feind war auch nicht zu übersehen.
Ein paar Yards entfernt kam ein Dutzend ihrer Gegner die breite Straße herunter. Er duckte sich hinter gestürzten Steinquadern und wartete, bis sie vorbei waren. Die knotigen Rücken glänzten wie gehämmertes Metall, und die langen Köpfe pendelten missmutig hin und her. Knochige Schultern, knochige Hüften. Groteske Zweibeiner, fast eine vorsätzliche Parodie auf die Menschen, die sie eben noch gewesen waren. Manche trugen noch schmierige Fetzen menschlicher Kleidung am Leib.
Der sterbliche Anteil von Guilford Law wäre am liebsten davongelaufen.
Doch der sterbliche Anteil von Guilford Law bezwang seine Furcht.
Er bewegte sich zwischen geborstenen Steinwänden auf das Zentrum der Stadt zu, auf demselben Weg wie damals, in jenem schrecklichen Winter vor knapp einem halben Jahrhundert. Wo die Kuppel über dem Brunnen stand und die Erscheinungswelt ein Loch hatte.
Matthew Crane hatte die Deckenlampe ausgeschaltet. Er saß in einer düsteren Ecke seines Büros. Die Schreibtischlampe hatte er brennen lassen.
Der Schreibtisch war leer geräumt. Im Lichtkegel der Lampe lag nur ein einziger Gegenstand: eine Pistole, ein altmodischer Revolver, blank und makellos.
Lily stierte auf die Waffe.
»Sie ist geladen«, sagte Matthew Crane.
Er klang wie durch Gallerte hindurch, undeutlich, gurgelte die Worte. Lily ertappte sich, wie sie die Entfernung zum Schreibtisch taxierte. Konnte sie es vor ihm schaffen? Oder würde sie alles nur schlimmer machen? Was wollte er von ihr?
»Keine Angst, mein kleiner Floh«, sagte Crane.
»Kleiner Floh?«, sagte Lily.
»Wie sagt der Volksmund? Große Flöhe haben kleine Flöhe im Pelz und die kleinen noch kleinere. Weil Sie mein kleiner Floh waren, Lily. Das waren Sie doch, oder?«
Sie tastete nach dem Lichtschalter. »Lassen Sie das«, sagte Crane scharf.
Lily ließ die Hand sinken. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden?«
»Zu spät. Zu spät für uns beide, fürchte ich. Ich habe auch meine Spione. Der kleine Floh hatte einen noch kleineren im Pelz, als er gestern das Museum besuchte.«
Ich könnte weglaufen, dachte Lily. Ob er schießen würde? Schwer zu sagen. Der chemische Geruch stieg ihr zu Kopf.
»Wir wissen, was wir sind«, sagte Crane. »Das macht es einfacher.«
»Macht was einfacher?«
»Über uns nachzudenken«, sagte Crane mit köchelnder Stimme. Er hustete, krümmte sich und richtete sich auf, bevor Lily seine Schwäche ausnutzen konnte. »Wir beide all die Jahre, großer Floh und kleiner Floh, und wozu das alles? Was hab ich erreicht, Lily? Ein paar Waffenlieferungen umleiten, ein paar Staatsgeheimnisse hüten, ein bisschen dazu beitragen, dass die Regierung mit Kriegen beschäftigt ist oder mit Grundsatzentscheidungen und jetzt ist die große Schlacht im Gange…« Im Düsteren sah es aus, als zucke er die Achseln. »Weit weg von hier. Mein Gott, warum hast du mich verlassen?«
»Das ist nicht lustig.«
»Da haben Sie Recht. Ich verändere mich, kleiner Floh, und ich weiß nicht wieso.«
Er stand auf und kam ein bisschen näher an die Lampe heran — an die Pistole.
Er ließ den lose umgehängten Überzieher fallen. Der Gestank wurde penetrant. Lily konnte die gekörnte Haut unter dem ramponierten Hemd sehen, die schwärenden Stellen, die Haut im Gesicht, die abblätterte wie sprödes Seidenpapier. Der Schädel nahm eine neue Form an, der Kiefer schob sich vor, die Hirnschale verzerrte sich unter Inseln aus Blut und Haar und dickem, gelbem Plasma.
Lily rang nach Luft.
»So schlimm, kleiner Floh? Ich habe keinen Spiegel. Doch, ich glaube, es ist so schlimm.«
Ihre Hand tastete nach der Tür.
»Wenn Sie weglaufen«, sagte er, »dann schieße ich. Ja, wirklich. Ehrenwort. Machen wir doch lieber ein Spiel daraus.«
Sie hatte noch nie solche Angst gehabt — doch, einmal, in dieser schrecklichen Nacht in Fayetteville. Damals hatte der Gegner wenigstens menschlich ausgesehen. Crane sah nicht wie ein Mensch aus, nicht mehr, nicht einmal im trüben Widerschein dieser Lampe.
»Ein Spiel?«, hauchte sie.
»Vergessen Sie, wie ich aussehe, kleiner Floh. Das hätte eigentlich nicht passieren dürfen, noch nicht jedenfalls. Ich kann es nicht ändern. Mein Gott komischerweise auch nicht.«
»Welcher Gott?«
»Mein abwesender Gott. Abwesend. Das ist der Punkt. Diese leise, kleine Stimme schweigt. Hat vermutlich anderswo zu tun. Unvorhergesehene Notfälle. Die wir euch verdanken. Aber dieser… Prozess… « Er streckte die blasenwerfenden Hände aus. »Es tut verdammt weh, kleiner Floh. Und so sehr ich um eine kleine Linderung bete… die Gebete bleiben ohne Antwort.«
Er musste husten, ein nicht enden wollender, gurgelnder Anfall. Rosarote, wässrige Tropfen landeten auf dem Schreibtisch, dem Teppich, ihrer Bluse.
Jetzt, dachte Lily, doch ihre Beine waren wie gelähmt.
»Bald«, sagte Crane, »bin ich nicht mehr ich selbst. Ich hätte es wissen müssen. Die Götter, was immer sie sonst noch sind, haben Appetit. Mehr als alles andere. Matthew Crane soll keinen Deut länger leben als du, kleiner Floh. Du siehst also, in welcher Lage ich bin.«
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