Die Tage vergingen. Nach dem Kalender war der Frühling nicht mehr fern, doch der Himmel blieb dunkel, der Wind stechend kalt. Guilford gewöhnte sich an die Schmerzen, jedes Gelenk tat ihm weh, immer.
Er fragte sich, ob der Bodensee wohl zugefroren war. Ob er ihn je wieder zu Gesicht bekam.
Das ramponierte Tagebuch trug er unter der Fellkleidung; er hatte es nie irgendwo liegen lassen. Auf den wenigen freien Seiten schrieb er gelegentlich kurze Mitteilungen an Caroline.
Er war sich darüber im Klaren, dass seine Kräfte nachließen. Das Bein peinigte ihn jetzt täglich und was Finch betraf — er sah aus wie ausgebuddelt aus einer Insektenkippe.
Die Temperaturen kletterten, aber nach drei Tagen setzte ein kalter Frühlingsregen ein. Die Jahreszeit war willkommen, Schlamm und Wind waren es nicht. Selbst die Wollschlangen waren abgemagert und stöberten trübsinnig im Morast nach den Gräsern vom vergangenen Jahr. Eines der Tiere war auf einem Auge erblindet, ein Star, der die Pupille mit einem hellen Schleier überzog.
Im Westen ballten sich neue Unwetter zusammen. Tom Compton erkundete einen Steinschlag, der natürlichen Schutz bot. Der Hohlraum unter den Granitblöcken war niedrig und auf zwei Seiten offen. Der Sandboden war übersät mit Tierkot. Guilford versperrte beide Zugänge mit Ästen und Fellen und band die Wollschlangen draußen an, sodass man hören konnte, wenn sie anschlugen. Doch der ehemalige Bewohner dieser kleinen Höhle, wenn es ihn denn gegeben hatte, blieb aus.
Ein sintflutartiger, kalter Regen sperrte sie in den Unterschlupf. Tom scharrte eine Feuermulde unter dem natürlichen Abzug des Steinschlags. Er war dazu übergegangen, alberne, sentimentale Lieder aus den Neunzigern, der so genannten ›Mauve Decade‹, zu summen Golden Slippers, Marbl’d Halls und dergleichen. [36] Mauve Decade: die durch Wohlstand und Selbstzufriedenheit charakterisierten Neunziger des 19. Jahrhunderts (Nordamerika).
Keine Texte, nur die Bassmelodien. Es klang weniger nach Liedern als nach dem Singsang der Aborigines, düster und fremd.
Der Regen prasselte weiter, ließ ab und zu nach, hörte aber nicht auf.
Rinnsale schossen aus dem Gestein. Guilford scharrte eine Rinne, um das Wasser zu der tiefer gelegenen Öffnung zu leiten. Sie rationierten den Proviant. Mit jedem Tag, den wir hier verbringen, dachte Guilford, werden wir ein bisschen schwächer; mit jedem Tag rückt der Rhein ein bisschen weiter von uns ab. Vermutlich gab es eine einfache Gleichung, irgendeine Relation zwischen Schmerz und Zeit, die nicht zu ihren Gunsten arbeitete.
Er träumte seltener von dem Wachsoldaten, gleichwohl war der Soldat ein fester Bestandteil seiner Nächte, engagiert, beschwörend und unwillkommen. Guilford träumte von seinem Vater, dessen Verbissenheit und Ordnungssinn ihn früh ins Grab gebracht hatten.
Nur keine Schuldzuweisung, dachte Guilford. Was treibt einen Mann in dieses gottverlassene Niemandsland, wenn nicht seine verbissene Zielstrebigkeit?
Vielleicht brachte ihn dieselbe Zielstrebigkeit zurück zu Caroline und Lily.
Sie werden nicht sterben, hatte Sullivan ihm zu verstehen gegeben. Wer weiß? Bis jetzt hatte er Glück gehabt. Eins stand jedenfalls fest: Er ertrug mehr, als er sich je hätte träumen lassen.
Er drehte sich nach Tom um, der mit angezogenen Knien dasaß, den kalten Fels im Kreuz. Toms Hand tastete immer mal wieder nach der Pfeife, die er vor Monaten verloren hatte. »In der Stadt«, sagte Guilford, »haben Sie da geträumt?«
Der Grenzer reagierte abweisend. »Das geht Sie nichts an.«
»Vielleicht doch.«
»Träume sind nichts wert. Ein Dreck sind sie.«
»Trotzdem.«
»Da war ein Traum«, sagte Tom. »Ich bin auf einem Schlachtfeld gestorben, ein einziger Morast. Ich war Soldat.« Er zögerte. »Ich wär mein eigener Geist, hab ich geträumt. So ein Quatsch!«
Überhaupt nicht, dachte Guilford.
Im Gegenteil, das hieß doch… ja, was nur, um Himmels willen?
Ein Schauder überlief ihn. Er wandte sich ab.
»Wir brauchen Fleisch«, sagte Tom. »Wenn das Wetter mitspielt, geh ich morgen auf die Jagd.« Er starrte zu Preston Finch hinüber, der Geologe schlief, sein Gesicht ähnelte einer Totenmaske. »Wenn nicht, müssen wir eins der Tiere schlachten.«
»Dann können wir gleich aufgeben.«
»Den Rhein erreichen wir auch mit zwei Tieren.«
Diesmal klang er nicht so überzeugt.
* * *
Der Morgen war klar, aber sehr kalt. »Legen Sie Holz nach«, sagte der Grenzer zu Guilford. »Lassen Sie das Feuer nicht ausgehen. Wenn ich in drei Tagen nicht zurück bin, ziehen Sie ohne mich los. Nach Norden. Und tun Sie, was Sie können, für ihn.«
Guilford sah Tom in das frische Blau des Tages hinausgehen, die Flinte auf dem Rücken, mit rhythmischen, sparsamen Bewegungen. Die Wollschlangen blickten ihm mit weit aufgerissenen, schwarzen Augen nach und miauten wie Katzen.
* * *
»Das habe ich nicht gewollt«, sagte Finch.
Das Feuer war niedergebrannt. Guilford hockte vor der blakenden Flamme und fütterte sie mit feuchten Zweigen. Der Qualm bestand hauptsächlich aus Dampf. »Was ist, Dr. Finch?«
Finch erhob sich, trat vorsichtig aus der Höhle ins kalte Tageslicht hinaus, er schien verletzlich wie altes Pergament. Guilford behielt ihn im Auge. Vergangene Nacht hatte Finch im Schlaf phantasiert.
Doch der Geologe stellte sich nur an den Fels, griff ins Fell und urinierte ausgiebig.
Er kam zurückgehumpelt, immer noch redend. »Nein, das hab ich nicht gewollt, Mr. Law. Ich wollte eine normale Welt, verstehen Sie?«
Er war ohnehin schwer zu verstehen. Zwei Vorderzähne hatten sich gelockert; er pfiff wie ein Wasserkessel. Guilford nickte geistesabwesend, während er das Feuer päppelte.
»Schonen Sie mich nicht. Hören Sie mir zu. Sie hatte ihren Sinn, Mr. Law, die Verwandlung von Europa, sie hatte Sinn im Hinblick auf die Sintflut, auf Babel und die Zerstörung von Sodom und Gomorrha, und wenn diese Verwandlung nicht die Tat eines eifernden aber vernünftigen Gottes ist, dann kann sie nur Chaos und Schrecken bedeuten.«
»Vielleicht sehen wir mit falschen Augen, vielleicht wissen wir zu wenig«, sagte Guilford. »Vielleicht sind wir wie Affen, die in einen Spiegel starren. Der Affe ist im Spiegel, aber nicht dahinter. Ist das schon ein Wunder, Dr. Finch?«
»Sie haben nicht gesehen, wie dieser Mann im Handumdrehen geheilt ist.«
»Dr. Sullivan hat mal gesagt, ›Wunder‹ sei ein Name für unsere Unwissenheit.«
»Nur einer von vielen.«
»Ach.«
»Geister, Dämonen.«
»Aberglaube«, sagte Guilford, obwohl ihm nicht geheuer war.
»Aberglaube«, sagte Finch monoton, »nennen wir die Wunder, die uns nicht passen.«
Kaum noch Papier, kaum noch Tinte. Ich fasse mich kurz. (Außer dass ich dir sage, wie sehr ich dich vermisse, Caroline, und dass ich die Hoffnung nicht aufgegeben habe, dich wiederzusehen und in meinen Armen zu halten).
Tom Compton ist seit vier Tagen fort, also seit einem Tag überfällig. Ich müsste aufbrechen, aber ohne ihn sieht es schlimm aus. Wer weiß? Vielleicht sehe ich die zottelige Gestalt ja noch aus dem Wald kommen…
Dr. Finch ist tot, Caroline. Als ich wach wurde, war er fort. Ich trat in den frischen Morgen hinaus und fand, dass er sich erhängt hatte — mit unserem Seil am Ast einer Salbeikiefer.
Überfroren vom Regen letzte Nacht. Glitzernd in der Sonne, wie ein böser Christbaumschmuck. Ich werde ihn abschneiden, wenn ich wieder bei Kräften bin. Diese Steinhöhle wird sein Denkmal & sein Grab.
Armer Dr. Finch. Er war müde & krank & wollte wohl nicht mehr weiterleben in einer, wie er nun glaubte, von Dämonen besessenen Welt. Kann man ihm das verdenken?
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