»Die Götter. Es schert sie nicht, was du in deiner Freizeit machst. Morphium, Kokain, Frauen, Sodomie, Mord, Backgammon — sie machen da keinen Unterschied. Aber du darfst dich nicht betäuben, wenn sie deine Aufmerksamkeit brauchen, und schon gar nicht versuchen, dir eine tödliche Überdosis zu spritzen, wenn das deine Absicht war. Das war dämlich, Elias, wenn ich das so sagen darf.«
Der Wagen bog um eine Ecke. Aus dem trostlosen Tag wurde ein trostloser Abend.
»Es gibt zu tun, Elias.«
»Wo fahren wir hin?« Nicht dass ihn das sonderlich interessierte, wenngleich er in seinem Innern die ekelerregende Gegenwart der Gottheit spürte, er bekam Pulsjagen und ein Hohlkreuz.
»Zu Eugene Randall.«
»Ist mir neu.«
»Jetzt nicht mehr.«
Vale musterte apathisch die Polsterung des nagelneuen Ford. »Was ist in der Tasche?«
»Sieh nach.«
Der lederne Arztkoffer enthielt Dreierlei: ein Skalpell, eine Flasche Methylalkohol und ein Döschen Zündhölzer. Sonst nichts.
Alkohol und Zündhölzer — um das Skalpell zu sterilisieren? Das Skalpell, um…
»Oh, nein«, sagte Vale.
»Nicht so zimperlich, Elias.«
»Randall ist nicht wichtig genug… egal was du vorhast.«
» Ich habe gar nichts vor. Die Entscheidung liegt nicht bei uns. Das weißt du.«
Vale starrte den vergnügten Burschen an. »Es macht dir nichts aus?«
»Nein. Nicht wirklich.«
»Du machst das nicht zum ersten Mal, hab ich Recht?«
»Elias, das ist Berufsgeheimnis. Tut mir Leid, wenn ich dich erschrecke. Was glaubst du denn, für wen wir arbeiten? Für den lieben Gott aus der Bibelstunde, für den ach so Guten Hirten? Wir haben es eher mit einem reißenden Leoparden zu tun.«
»Willst du Eugene Randall töten?«
»Du triffst den Nagel auf den Kopf.«
»Aber warum?«
»Muss ich das wissen? Das Problem ist wahrscheinlich die Aussage, die er vor dem Chandler-Ausschuss machen will. Alles, was er tun muss, und das hat ihm meines Wissens die selige Louisa Ellen bereits geraten, ist nichts zu tun; er soll den Untersuchungsausschuss seines Amtes walten lassen. Es gibt fünf Zeugen, die angeblich gesehen haben, wie die Weston von Englisch sprechenden Gentlemen mit Mörsern und regulären Lee-Enfield-Gewehren beschossen wurde. Randall würde sich und dem Smithsonian eine Menge Ärger ersparen, wenn er einfach nur lächeln und nicken würde, aber wenn er unbedingt querschießen möchte…«
»Er glaubt, dass Finchs Leute noch am Leben sind.«
»Du sagst es.«
»Selbst wenn — aufs Ganze gesehen, was macht das schon? Wenn die Götter wirklich wollen, dass es Krieg gibt, dann dürfte Randalls Aussage kein Hindernis sein. Und die Zeitungen werden sowieso nicht darüber berichten.«
»Aber sie werden den Mord bringen. Und wenn wir es richtig anstellen, dann waren es britische Agenten.«
Vale schloss die Augen. Ein Rad greift ins andere, ad infinitum. Einen qualvollen Moment lang sehnte er sich nach der Morphium-Spritze.
Dann überkam ihn eine verdrossene Entschlossenheit, es war nicht wirklich seine. »Wird es lange dauern?«
»Überhaupt nicht«, winkte Crane ab.
* * *
Vielleicht war es eine Nebenwirkung des Morphiums, denn Vale spürte die Gegenwart seiner Gottheit neben sich, als er durch den verwaisten Korridor des Museums zu Randalls Büro ging. Randall war allein, arbeitete noch, und vermutlich hatten die Götter auch das arrangiert.
Seine Gottheit war ungewöhnlich leibhaftig. Wenn er nach links sah, konnte er sie sehen oder bildete sich ein, sie zu sehen. Sie ging neben ihm her. Bot weder einen erfreulichen noch einen ätherischen Anblick. Ihre Präsenz war so aufdringlich wie die eines ausgewachsenen Ochsen, allerdings um Längen grotesker.
Sie hatte viel zu viel Arme und Beine, das Maul war grausig, außen scharf wie ein Schnabel und inwendig feucht und knallrot. Ein Kamm aus knotigen Beulen zog sich vom Bauch bis zum Hals. Eine frontale Wirbelsäule? Vale konnte die Farbe der Gottheit nicht ausstehen: ein totes, mineralisches Grün. Crane, der rechts neben ihm ging, sah nichts von alledem.
Roch auch nichts. Doch der Geruch war genauso leibhaftig, zumindest für Vales Nase. Ein strenger, chemischer Geruch wie in einer Gerberei oder in einer Arztpraxis, wenn irgendeine Flasche zu Bruch gegangen war.
Sie überraschten Eugene Randall in seinem Büro. (Wie überrascht Randall erst gewesen wäre, hätte er die abscheuliche Gottheit sehen können! Das war offensichtlich nicht der Fall.)
Randall sah müde von der Arbeit auf. Nach Walcotts Ausscheiden hatte er die Leitung des Museums übernommen, was sichtlich an seinen Kräften zehrte. Ganz zu schweigen von der Vorladung des Untersuchungsausschusses und seiner post mortem nörgelnden Gattin.
»Elias!«, sagte er. »Und Sie sind Timothy Crane, richtig? Wir sind uns bei Eleanor begegnet.«
Eine Unterhaltung war unerwünscht. Die Zeiten ändern sich. Crane ging ans Fenster hinter Randall und öffnete den Arztkoffer. Er nahm das Skalpell heraus. Es glitzerte im wässrigen Licht. Randalls Aufmerksamkeit galt weiterhin Vale.
»Elias, was gibt es? Offen gesagt, ich habe jetzt keine Zeit für…«
Wofür?, fragte Vale sich, als Crane rasch vortrat und das Messer über Randalls Hals zog. Randall gurgelte und schlug um sich, doch er hatte zu viel Blut im Mund, um wirklich laut zu werden.
Crane legte das blutige Skalpell in den Koffer zurück und nahm die braune Flasche mit Methylalkohol heraus.
»Ich dachte, damit wolltest du das Messer sterilisieren«, sagte Vale. Idiotischer Gedanke.
»Sei nicht albern, Elias.«
Crane leerte die Flasche über Randalls Kopf und Schultern und besprengte mit dem Rest den Schreibtisch. Randall kippte aus seinem Schreibtischsessel und machte Anstalten, über den Boden zu robben. Eine Hand umklammerte den Hals, als versuchte er, die klaffende Wunde zu schließen, doch das Blut quoll in Bächen über die Finger.
Crane riss ein Zündholz an.
* * *
Cranes linke Hand stand in Flammen, als er das brennende Büro verließ. Er war fasziniert, drehte und wendete die Hand vor seinen Augen, bis die blauen Flammen infolge Nahrungsmangel erloschen. Hand und Manschette waren unversehrt geblieben.
»Amüsant«, sagte er.
Elias Vale, dem plötzlich speiübel war, sah sich nach seiner Gottheit um. Doch die Gottheit war fort. Alles, was von ihr übrig war, waren Rauch und Feuerschein und dieser entsetzliche Gestank nach brennendem Fleisch.
Um wieder zu Kräften zu kommen, ritt Guilford auf einer Wollschlange, derweil Tom Compton die Tiere den Hang hinauftrieb. Es war kein leichter Aufstieg. Der eisverkrustete Schnee verbiss sich in die dicken Beine der Wollschlangen; die Tiere beklagten sich bitter, verweigerten aber nicht den Gehorsam. Vielleicht weil sie begriffen, was hinter ihnen lag, dachte Guilford. Vielleicht waren sie um jeden Schritt froh, den sie zwischen sich und dieses gewaltige Ruinenfeld brachten.
Nach Einbruch der Dunkelheit und bei Schneeregen machte der Grenzer auf einer Lichtung halt und entfachte ein kleines Feuer. Guilford machte sich nützlich, indem er Windbruch sammelte, während Preston Finch vermummt und verbittert beim Feuer hockte und nachlegte. Die Wollschlangen drängten sich zusammen, ihr Winterpelz glitzerte, Atem dampfte aus den kreisrunden Nüstern.
Die Mahlzeit bestand aus einem frisch erlegten Nachtfalken, ausgenommen und kohlschwarz gegrillt, sowie ein paar Streifen gedörrtes Wollschlangenfleisch aus Tom Comptons Tornister. Zwischen zwei Bäumen improvisierte der Grenzer aus Fellen und Salbeikieferästen einen überdachten Windschutz. Aus dem jüngsten Überfall hatte er etliche Felle, eine Pistole und drei Packtiere bergen können. Das war alles, was von der Finch-Expedition übrig war.
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