»Doch nicht sofort«, meinte Caroline. Colin und der Portier überhörten ihren Einwand. Vielleicht war es doch an der Zeit. Über Nacht war die Luft unerträglich geworden. Caroline spürte Stiche in der Lunge und Lily musste immerzu husten.
»Alles östlich der Thames Street muss geräumt werden«, beharrte der Portier. »Anordnung des Bürgermeisteramtes.«
Schon merkwürdig, wie lange eine Stadt brannte, selbst eine so kleine und primitive Stadt wie London.
Sie raffte ihre Taschen zusammen und half Lily packen. Colin hatte kein Gepäck — jedenfalls nichts, woran ihm gelegen war —, aber er faltete die hoteleigenen Bettlaken und Decken zu einem Bündel zusammen. »Das Hotel wird nicht meckern«, sagte Colin. »Nicht unter diesen Umständen.«
Er weiß genauso gut wie ich, dachte Caroline, dass das Hotel morgen früh in Schutt und Asche liegt.
Sie trat vor die Spiegelkommode und ordnete ihr Haar. Sie konnte kaum etwas sehen. Draußen herrschte Zwielicht und das Gas war seit dem Angriff abgesperrt. Sie sah zu, wie sich die Geistererscheinung im Spiegel kämmte, dann nahm sie Lilys Hand. »Fertig«, sagte sie. »Wir können gehen.«
* * *
Colin verkleidete sich auf dem Treck in die ausgedehnte Zeltstadt, die westlich von London entstanden war. Er trug einen viel zu großen Regenmantel und einen Schlapphut, beides zu einem horrenden Preis von einem Altwarenhändler erstanden, der den Flüchtlingsstrom abgraste. Army und Navy waren zur Unterstützung abkommandiert. Sie zirkulierten zwischen den improvisierten Unterkünften und verteilten Lebensmittel und Arznei. Colin wollte unerkannt bleiben.
Natürlich wollte er nicht als Deserteur festgenommen werden. Genau genommen, dachte Caroline, war er ja desertiert. Sie wusste, dass ihm das zu schaffen machte, aber er wollte nicht darüber sprechen. »Ich war nicht viel mehr als eine Art Lagerverwalter«, sagte er. »Ich bin ersetzbar.«
* * *
Nachdem sie drei Tage in der Zeltstadt verbracht hatten, wurden die Lebensmittel knapp, allerdings wurden allerortens optimistische Gerüchte laut: Ein Dampfer vom Roten Kreuz komme die Themse herauf; die Amerikaner seien auf offener See geschlagen worden. Das Gerede ließ Caroline kalt. Sie wusste aus eigener Erfahrung, was davon zu halten war. Es reichte voll und ganz, dass dem Feuer offenbar die Nahrung ausging und ein kalter Frühlingsregen einsetzte. Die Leute redeten von Wiederaufbau, wenngleich Caroline das Wort für absurd hielt: die Rekonstruktion einer Rekonstruktion einer verschwundenen Welt, was für ein Unsinn!
Einen ganzen Nachmittag lang wanderte sie zwischen den schwelenden Lagerfeuern und stinkenden Latrinengräben umher und hielt nach Alice und Jered Ausschau. Sie bedauerte, in London keinen Bekanntenkreis zu haben, sie hatte sich zu sehr abgesondert. Wie schön wäre es gewesen, jetzt einem vertrauten Gesicht zu begegnen, doch es gab keine vertrauten Gesichter, bis auf das von Mrs. de Koenig, der Frau, die so oft auf Lily aufgepasst hatte. Mrs. de Koenig sah verdrossen drein, sie war allein, in eine triefende Persenning gehüllt, ihr Haar war wirr und nass; zuerst erkannte sie Caroline gar nicht.
Doch als Caroline sich nach Alice und Jered erkundigte, schüttelte die ältere Frau traurig den Kopf. »Sie haben zu lange gewartet. Das Feuer stürmte durch die Market Street, als ob es lebendig wär.«
Caroline stockte der Atem. »Sie sind tot?«
»Tut mir Leid.«
»Sind sie sicher?«
»So sicher wie es regnet.« Ihre rotgeränderten Augen waren voller Trauer. »Tut mir Leid, Miss.«
Etwas wird einem immer gestohlen, dachte Caroline, als sie durch den Morast und die faulenden Pflanzen zurückstapfte. Etwas wird einem immer genommen. Im Regen fiel es nicht auf, wenn man weinte, und sie ließ ihren Tränen freien Lauf. Sie wollte mit dem Weinen fertig sein, bevor sie Lily unter die Augen trat.
Blüte um Blüte explodierte das Feuerwerk über dem Washington Monument, man feierte den Sieg im Atlantik. Die jähen Lichter färbten den Reflecting Pool. [37] Großes Zierbecken, das die darunterliegende Architektur bzw. den Himmel spiegelt.
Die Nacht roch nach Schießpulver; die Menschenmenge war ausgelassen und wild.
»Du musst die Stadt verlassen«, sagte Crane, er hatte die Hände in den Taschen und lächelte vielsagend. Er latschte wie ein Brahmane, mit einer Selbstgefälligkeit, die sich nicht allzu ernst nahm. »Ich nehme an, du weißt das.«
Wann hatte Vale zuletzt eine öffentliche Feier erlebt? Ein paar halbherzige Feten am Independence Day seit dem denkwürdigen Sommer 1912. Doch der Sieg im Atlantik hatte wie Glockengeläut über das Land gehallt. In diesem nächtlichen Gedränge würden sie nicht auffallen. Sie konnten laut reden.
Vale sagte: »Erst hätte ich noch gerne gepackt.«
Crane würde, anders als die Götter, einen Einwand hinnehmen.
»Keine Zeit, Elias. Wie dem auch sei, Leute wie wir brauchen keine irdischen Güter. Wir halten es eher — ähm — wie die Affen.«
Das Fest würde bis in den Morgen dauern. Ein glorreicher, kleiner Krieg: ganz im Sinne von Teddy Roosevelt. Die Briten hatten nach verheerenden Verlusten, die man ihrer Atlantikflotte und ihren Darwinischen Kolonien beigebracht hatte, kapituliert und fürchteten nun einen Angriff auf Kitcheners Exilregierung in Kanada. Das Diktat hielt sich in Grenzen: ein Waffenembargo, so die offizielle Fußnote der Wilson-Doktrin. Der Konflikt hatte eine ganze Woche gedauert. Weniger ein Krieg, dachte Vale, als die Fortsetzung der Diplomatie mit anderen Mitteln — und eine Warnung an die Japaner, sollten sie auf die Idee kommen, ihre imperialen Gelüste gen Westen zu richten.
Natürlich hatte der Krieg einem anderen Zweck gedient, einem Zweck, den nur die Götter kannten. Und dabei würde es vermutlich auch bleiben, dachte Vale. Vielleicht ging es nur darum, das Potential an Hass, Gewalt und Verwirrung zu steigern. Aber die Götter machten für gewöhnlich Nägel mit Köpfen.
In der Post hatte ein gerahmter Zusatz gestanden: Im Zusammenhang mit dem Mord an Smithsonian-Direktor Eugene Randall wurden britische Staatsangehörige und Sympathisanten vernommen. Vales Name wurde nicht erwähnt, der hatte das Zeug für eine Morgenausgabe. »Du solltest mir dankbar sein, dass ich den Kopf hinhalte«, erklärte er Crane.
»Nett ausgedrückt. Aber er bleibt obendrauf, glaub mir. Du wirst noch gebraucht. Sieh es einmal so: Du legst eine Rolle ab. Die Polizei findet dich tot in der Asche deines Reihenhauses, zumindest ein paar verräterische Knochen und Zähne. Fall erledigt.«
»Wessen Knochen?«
»Spielt das eine Rolle?«
Vermutlich nicht. Irgendein anderes Opfer. Irgendein Hindernis auf dem Weg zu einer angemessenen und zweckmäßigen Evolution des Kosmos.
Crane sagte: »Hier, nimm das.« Es war ein Umschlag mit einem Eisenbahnticket und einem Bündel Hundert-Dollar-Noten. Als Bestimmungsort stand New Orleans auf dem Ticket. Vale war noch nie in New Orleans gewesen. Seinetwegen hätte da statt New Orleans auch Mars-Ost stehen können.
»Dein Zug geht um Mitternacht«, sagte Crane.
»Und was ist mit dir?«
»Ich habe einen Schutzengel, Elias.« Er lächelte. »Um mich mach dir keine Sorge. Vielleicht sehen wir uns ja wieder, in zehn Jahren oder zwanzig oder dreißig.«
Gott steh uns bei. »Fragst du dich nie — ob das jemals aufhört?«
»Oh doch«, sagte Crane. »Ich glaube, wir werden das erleben, was meinst du?«
Das Feuerwerk erreichte sein Crescendo. Sterne explodierten zum rollenden Donner der Kanonenschläge: blau, violett, weiß. Ein gutes Omen für die neue Harding-Regierung. Hier im modernen Washington würde Crane Karriere machen, dachte Vale. Wie eine Rakete würde er aufsteigen.
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