Er fischte eine Pfeife aus der Satteltasche, stopfte sie und riss ein Zündholz an. Er rauchte Tabak, keinen Flusstang. Der Geruch war exotisch, voller Erinnerungen. In Leder gebundene Bücher, tiefe Polster, Zivilisation.
»Wir sind beide im Großen Krieg gefallen«, sagte Erasmus. »In der anderen Welt, meine ich. Wir haben beide mit unserem eigenen Geist geredet.«
Guilford überlief ein Schauder. Er wollte das nicht hören. Alles andere, nur das nicht — nicht noch mehr Wahnsinn, nicht jetzt.
»Im Grunde«, sagte Erasmus, »bin ich bloß ein kleiner Heinie [38] Deutschstämmiger US-Amerikaner.
aus der dritten Generation in Wisconsin. Mein Vater hat den größten Teil seines Lebens in einer Abfüllerei gearbeitet, und mir hätte dasselbe geblüht, wenn ich mich nicht nach Jeffersonville abgesetzt hätte. Aber da ist diese andere Welt, wo der Kaiser mit den Briten und den Franzosen und den Russen aneinandergeriet. 1917/18 wurden eine Menge Amerikaner eingezogen, sie mussten über den Teich, um zu kämpfen. Viele sind gefallen.« Er räusperte sich und spuckte einen braunen Schleimbatzen ins Feuer. »In der anderen Welt bin ich ein Geist und in dieser hier bin ich noch aus Fleisch und Blut. Können Sie mir folgen?«
Guilford schwieg.
»Aber die zwei Welten sind nicht mehr ganz voneinander getrennt. Daher die Verwandlung Europas, ganz zu schweigen von der so genannten Stadt, in der ihr überwintert habt. Die beiden Welten haben sich verheddert, weil — es gibt da etwas, das sie zerstören will. Vielleicht nicht zerstören, eher fressen — tja, es ist schon kompliziert.
Ein paar von uns sind in der anderen Welt gestorben und leben in dieser Welt weiter, und das ist das Besondere an uns. Vor uns liegt eine Aufgabe, Guilford Law, und es ist kein Zuckerschlecken. Glauben Sie ja nicht, dass ich alle Einzelheiten kenne. Nein, nein. Aber die Aufgabe ist langwierig und scheußlich, und wir sind diejenigen, welche.«
Guilford sagte nichts, dachte nichts.
»Die beiden Welten kommen sich immer ein bisschen näher. Tom wusste das nicht, als er die Stadt betrat — vielleicht hat er es geahnt —, aber er wusste es hundertprozentig, als er ging. Er weiß es jetzt. Und ich glaube, Sie wissen es auch.«
»Menschen glauben alles Mögliche«, sagte Guilford.
»Und Menschen wollen alles Mögliche nicht wahrhaben.«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen?«
»Ich glaube doch. Sie sind einer von uns, Guilford Law. Sie sträuben sich noch. Sie haben Frau und Kind, und da will man nichts vom Armageddon wissen, ich mache Ihnen keinen Vorwurf. Aber es ist auch um ihretwillen — der Kinder, der Enkelkinder.«
»Ich glaube nicht an Geister«, brachte Guilford heraus.
»Das ist schade, denn die Geister glauben an Guilford Law. Und ein paar von diesen Geistern würden Sie am liebsten tot sehen. Gute Geister, böse Geister, es gibt zwei Sorten.«
Ich will diese Hirngespinste nicht noch päppeln, dachte Guilford. Vielleicht hatte er ja das eine oder andere in seinen Träumen erlebt. In diesem Schacht im Zentrum der Ruinenstadt. Aber was hieß das schon?
(Woher wusste Erasmus von dem Wachsoldaten? Sullivans letzte, rätselhafte Worte: Sie sind in Frankreich gestorben. Im Kampf gegen die Boches… Nein, lass die Finger davon; denk später drüber nach. Nur nichts zugeben. Mach, dass du heimkommst, zu Caroline.)
»Die Stadt…«, hörte er sich flüstern.
»Die Stadt gehört ihnen. Sie sollte nicht gefunden werden. Um sie versteckt zu halten, scheuen sie vor nichts zurück. Gehen Sie mal hin, in sechs Monaten oder einem Jahr, Sie werden sie nicht mehr finden. Die nähen das Tal einfach zu, wie einen Mehlsack. Die können so was. Die entfernen ein Stückchen Welt aus unserem — unserem Horizont. Oh, Sie oder ich, wir finden die Stadt vielleicht, ein normaler Mensch aber nicht.«
»Ich bin ein normaler Mensch«, sagte Guilford.
»Wünschen kann man sich vieles, hat meine Mutter immer gesagt. Egal.« Der Wollschlangenfarmer erhob sich ächzend. »Legen Sie sich aufs Ohr, Guilford Law. Wir haben noch ein gutes Stück vor uns.«
* * *
Erasmus kam nicht wieder auf das Thema zu sprechen, und Guilford wollte nicht darüber nachdenken. Er hatte andere Probleme, dringendere.
Auf der Wollschlangenfarm besserte sich sein körperlicher Zustand. Bis die Warenboote aus Jeffersonville eintrafen, konnte er schon ein Stück weit gehen, und zwar ohne zu humpeln. Er bedankte sich bei Erasmus und fragte ihn, was er denn von einem Argosy- Abonnement per Schiff halte.
»Gute Idee. Dieses Buch von Finch war langweilig. Vielleicht auch noch das National Geographic?«
»Abgemacht.«
» Science and Invention?«
»Erasmus, Sie haben mir am Bodensee das Leben gerettet. Alles, was Sie wollen.«
»Na ja — ich will nicht habgierig sein. Und ich bezweifle, ob ich Ihnen das Leben gerettet habe. Ob Sie leben oder sterben, liegt nicht in meinen Händen.«
Erasmus hatte seine Ware in zwei flache Flussboote geladen, die auf einen Broker aus Jeffersonville hörten. Das war Guilfords Rückkehr an die Küste. Er hielt dem Farmer die Hand hin.
»Und wegen Evangeline…«
»Keine Sorge. Sie kann tun und lassen, was sie will. Gibt man dem Tier erst einen Namen, hat der gesunde Menschenverstand verloren.«
»Danke.«
»Wir sehen uns«, sagte Erasmus. »Und denken Sie an meine Worte, Guilford.«
»Mache ich.«
Aber nicht jetzt.
* * *
Der Flussschiffer erzählte ihm von den Scherereien mit England. Ein Seegefecht und streng zensierte Nachrichten über den Äther. »Es heißt aber, wir hätten sie vernichtend geschlagen.«
Die Boote kamen gut voran, das Land wurde flacher, der Rhein breiter. Die Tage waren jetzt wärmer, die Rheinmarsch lag smaragdgrün unter einem heiteren Frühlingshimmel.
* * *
Er folgte dem Rat von Erasmus und kam anonym in Jeffersonville an. Die Stadt war gewachsen, seit Guilford sie zuletzt gesehen hatte, mehr Fischerhütten und drei neue Gebäude auf dem festen Grund bei den Docks. Mehr Boote lagen in der Bucht, aber keine Kriegsmarine; die Basis der Navy lag fünfzig Meilen weiter südlich. Keine Fracht für London — jedenfalls keine legale.
Er sah sich nach Tom Compton um, aber die Hütte des Grenzers war verwaist.
Im hiesigen Büro der Western Union veranlasste er eine Geldanweisung; er konnte nur hoffen, dass Caroline in der irrigen Annahme, er sei tot, sein Bostoner Konto nicht aufgelöst hatte. Der Transfer funktionierte einwandfrei, eine Nachricht kam allerdings nicht durch nach London. »Nach dem, was man so hört«, erklärte ihm der Telegraphist, »gibt es da wohl keinen Kollegen mehr.«
In der Hafenkneipe, wo er den Mann treffen sollte, der ihn über den Kanal bringen würde, erfuhr er von einem betrunkenen amerikanischen Matrosen vom Angriff auf London.
Guilford trug einen zweireihigen Mantel aus grobem Wollstoff und eine Wollmütze, tief in die Stirn gezogen. Die Schenke war randvoll und zugequalmt. Er setzte sich auf einen Schemel am Ende der Bar, was aber nichts daran änderte, dass er das eine oder andere aus dem allgemeinen Stimmengewirr aufschnappte. Erst als ein dickleibiger Matrose am nächsten Tisch etwas über London sagte, spitzte Guilford die Ohren. Es fielen die Worte ›Feuer‹ und ›gottverdammte Wildnis‹.
Er ging an den Tisch, an dem der Seemann mit einem anderen saß, einem schlaksigen Neger. »Entschuldigen Sie«, sagte Guilford. »Ich wollte nicht mithören, aber sie haben doch London erwähnt? Ich bin ganz wild auf Einzelheiten… meine Frau und meine kleine Tochter sind da.«
»Ich hab selbst ein paar Bastarde da zurückgelassen«, sagte der Matrose. Sein Lächeln verzog sich, als er Guilfords Miene sah. »Nichts für ungut… ich weiß nur, was ich gehört habe.«
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