Und die Strudel, dachte Guilford, und die Stromschnellen, obwohl der Fluss bislang ganz friedlich gewesen war. Ob der Strom der Evolution auch so launisch war?
Sullivan, Gillvany, Finch und Robertson nahmen den Tag in Beschlag — Digby, der Koch der Expedition, nannte das Kollektiv ›Plants and Ants, Stones and Bones‹. Die Nacht gehörte Keck, Tuckman und Burke, den Landvermessern und Navigatoren mit ihren Sextanten und Sternen und Karten bei Lampenlicht. Guilford konnte es nicht lassen, Keck nach der genauen Position zu fragen, denn seine Antworten waren jedes Mal so urkomisch: »Wir fahren in die Kölner Bucht ein, Mr. Law, und wenn noch alles beim Alten wär, könnten wir bald Düsseldorf sehen.«
Die Weston liegt in einer breiten, trägen Flusskehre vor Anker, die T. Compton ›Cathedral Pool‹ nennt. Der Rhein kommt aus einem friedlichen Senkungsgraben, östlich von uns das hügelige Bergische Land, irgendwo vor uns die Rheinschlucht. Üppig bewaldetes Gebiet: Moscheebäume (größer als die englische Spezies), riesige khakifarbene Salbeikiefern, dichtes Unterholz. Vielleicht Brandgefahr bei anhaltender Trockenheit. Im anderen Europa war das ein Braunkohlenrevier; laut Compton wurden hier Prospektoren gesichtet, auch Stollen & flache Minen (selten), und wir haben primitive Straßen & ein paar Boote und Flöße gesehen. Finch sucht Beweise für verkokbareKohle, behauptet, aus dieser Region würde eines Tages ein Eisen- und Stahlzentrum. So Gott will, mit Roheisen aus den Oolithböschungen der Côtes de Moselle, falls die USA einen Kontinent ›fenced with borders‹ verhindern.
Für Sullivan ist Kohle ein weiterer Beleg für ein urzeitliches Darwinia, eine stratigraphische Konsequenz aus der tertiären Aufwölbung des Rheinplateaus. Die eigentliche Frage sei, ob die darwinische Geologie mit der des alten Europas identisch sei und Unterschiede nur auf andere Witterungseinflüsse & Flussverläufe zurückzuführen sind; oder ob die darwinische Geologie nur ungefähr die gleiche ist, also Abweichungen zeigt — was wichtig für unsere Alpenüberquerung ist: Eine unerwartete Schlucht am Mont Genevre oder Brenner würde uns ernüchtert nach J’ville zurückschicken.
Wetter schön, blauer Himmel, Strömung stärker inzwischen.
Das würde so nicht bleiben, wusste Guilford: diese gemütliche Kreuzfahrt mit gut versorgter Kombüse, diese sorglosen Tage mit Kamera und Pflanzenpresse, die Kiesstrände ohne lästige Insekten oder sonstiges Getier, die sternklaren Nächte, wie er sie nur aus Montana kannte. Die Weston dampfte weiter den Senkungsgraben hinauf und die Felswände wurden immer steiler, die Trümmer immer dramatischer, bis es Guilford nicht mehr schwerfiel, sich das alte Europa vorzustellen, die verschwundenen Burgen (»Eberbach«, würde Keck jetzt loslegen, »Marksburg, Burg Sooneck, Kaiserpfalz…«), Scharen von teutonischen Kriegern mit Stacheln und Quasten auf dem Helm…
Doch das war nicht das alte Europa, man merkte es auf Schritt und Tritt: die rastlosen Dornfische in den Untiefen, der Zimtgeruch der Salbeikieferwälder (weder Salbei noch Kiefer, große Bäume, das Geäst eine einzige wendeiförmig ansteigende Rampe), die Nachtrufe von namenlosen Kreaturen. Hier gab es Menschen — Guilford sah ab und zu ein Floß, auch Treidelleinen, Trapperhütten, Rauch von Holzfeuern, Fischreusen —, aber diese Menschen waren erst seit kurzem hier.
Und so fand er eine Art Trost in der Menschenleere dieses Landes, in der eigenen erschreckenden Anonymität, Fußabdrücke hinterlassend, wo bislang noch keine gewesen waren, wohl wissend, dass das Land sie bald wieder tilgen würde. Das Land verlangte nichts und gab nichts als sich selbst.
Doch die sorglosen Tage waren gezählt. Die Weston näherte sich Rheinfelden. Dann musste sie kehrtmachen. Und dann, dachte Guilford, werden wir erst wissen, was es heißt, allein zu sein in dieser Wildnis aus Fels und Wald.
Die Rheinfelden-Kaskade oder der Rheinfall, Endstation für die Schifffahrt. Bis hier war Tom Compton gekommen. Ein paar Trapper, so Compton, wollen mit ihren Kähnen bis zum Lake Constance gekommen sein. Aber Trapper neigen zur Prahlerei.
Die Wasserfalle sind nicht so spektakulär wie die Niagarafälle, aber sie sind eine gebieterische Barriere für alles, was auf dem Wasser fährt. Dichter Nebel über dem Fluss, eine große, bleiche Gewitterwolke hängt über den schwitzenden Felsen & bewaldeten Hügeln. Das Wasser eine einzige rasche, grüne Strömung, Regenwolken verdunkeln den Himmel, auf jedem Felsen und in jedem Spalt ein moosartiges Gewächs mit zierlichen, weißen Blüten.
Habe die Kaskade studiert & photographiert. Fahren zu einer Stelle zurück, die sich als Portage eignet: Wir brauchen Packtiere. Tom Compton weiß von einem ansässigen Pelztierzüchter, der uns vielleicht Tiere verkauft.
PS an Caroline & Lily: Vermisse euch sehr, kommt mir vor, als würde ich mit euch reden auf diesen Seiten, auchwenn ich sehr weit weg bin — tief im verlorenen (oder Neuen) Kontinent, eine seltsame Fremdheit, wohin man auch sieht.
Der Pelztierzüchter entpuppte sich als starrköpfiger Deutsch-Amerikaner, der sich ›Erasmus‹ nannte und auf einer Farm abseits vom Fluss seine Wollschlangenzucht betrieb.
Die Wollschlange, so Sullivan, war zur Zeit der ergiebigste Rohstoff des Kontinents. Pflanzenfressende Herdentiere, die auf den Hochlandwiesen lebten und vermutlich die ganze östliche Steppe bevölkerten; Donnegan war ihnen am Fuß der Pyrenäen begegnet, was nahelegte, dass sie weit verbreitet waren. Guilford war fasziniert und verbrachte fast den ganzen restlichen Tag am Kral dieses Erasmus, und das trotz des penetranten Geruchs, der das bei weitem Unerfreulichste an diesen Tieren war.
Eigentlich, dachte Guilford, erinnerten sie weniger an Schlangen als an Larven — aufgedunsene, bleiche ›Gesichter‹ mit Kuhaugen, walzenförmige Körper auf sechs Beinen, die hinter einem Vorhang aus verfilzten Haarsträngen verschwanden. Als Ressource waren sie ein Sears-Roebuck-Katalog: [32] Versandhauskatalog (seit 1895) der amerikanischen Firma Sears, Roebuck and Co.
Wolle für Kleidung, Haut für Leder, Fett für Talg und das milde Fleisch war genießbar. Schlangenwolle war der Hauptwirtschaftsfaktor am Rhein und Schlangenwolle, so Sullivan, habe bereits ihr Debüt in New Yorker Modekreisen gehabt. Entweder, überlegte Guilford, überstand der üble Geruch das Scheren nicht oder niemand würde so etwas anziehen, auch nicht in einem New Yorker Winter.
Und nicht zu vergessen, die Wollschlange war ein zuverlässiges Packtier, das die Erkundung der Alpen enorm erleichtern würde. Preston Finch saß bereits mit Erasmus in dessen Torfhütte und feilschte um fünfzehn oder zwanzig Tiere. Und Erasmus schien hart zur Sache zu gehen, denn als Diggs das Kantinenzelt aufgestellt hatte, verhandelten die beiden immer noch und es ging laut her in der Hütte.
Schließlich stürmte Finch ins Freie und ignorierte das Essen. »Ein schrecklicher Mensch«, knurrte er. »Sympathisiert mit den Partisanen. Zwecklos.«
Der Navy-Lotse und die Crew blieben an Bord der Weston und trafen Vorbereitungen, um mit Proben, Sammlungen, Feldnotizen und Post den Rückweg anzutreten. Guilford, Sullivan, Keck und Tom Compton saßen auf einer Klippe über dem Fluss, labten sich an Digbys aufgewärmtem Corned Beef und sahen zu, wie die Sonne gen Westen sank.
»Das Dumme an Finch ist«, sagte Sullivan, »dass er nicht ein Jota nachgeben kann.«
»Das kann Erasmus auch nicht«, sagte Tom Compton. »Er ist kein Partisan, nur ein brauchbarer Dummkopf. Verbrachte drei Jahre in Jeffersonville und makelte mit Häuten, aber keiner hielt es lange bei ihm aus. Er kann nicht unter Menschen leben.«
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