»Ich habe Göttinnen in meinen Armen gehalten, Bruder«, erklärte Gilgamesch trocken; er erinnerte sich an sein erstes Leben, als er König gewesen war im echten, wirklichen Uruk und jedes Jahr mit der göttlichen Inanna pflichtgemäß die rituelle Heilige Hochzeit zu vollziehen hatte. Es war eine recht heftige Sache gewesen, das mit der Inanna, deren mißgünstiger Eifer und Machtgier ihn beinahe vorzeitig das Leben gekostet hatten. »Sie sind nicht immer sehr angenehme Bettgefährtinnen, wenn ich dir das warnend in Erinnerung rufen darf. Aber sieh, schau, da kommt mein Haariger Mann.«
»Du hast mich herbefohlen, hier bin ich, König Gilgamesch«, sagte das uralte Geschöpf.
»Wir reden gerade über den Pfad ins Land der Lebenden«, sagte Gilgamesch.
»Ach.« Die Bernsteinaugen des Behaarten glommen wie Laternen in dem unergründlichen fellbedeckten Gesicht.
Gilgamesch sprach weiter: »Gerade erreichte uns eine Information, daß der Zugang zu diesem Land bekannt ist und daß er sich auf der Insel Brasil befindet.«
»Warum sagst du das zu mir?« fragte der Behaarte ruhig mit seiner pelzigen schwerfälligen Stimme, die Gilgamesch zwang, sich vornüber zu neigen, um jedes Wort zu verstehen.
»Weil alles, was es in Brasil gibt, droben in der Stadt und in den Erdgängen darunter, dir bekannt ist, glaube ich. Also solltest du in der Lage sein, uns zu sagen, ob das so ist, daß es in dieser Stadt das Tor zum Land der Lebenden gibt.«
Der Haarmensch schwieg geraume Zeit.
»Nein«, sagte er dann. »Nein, einen solchen Durchgang kann man da nicht finden. Nicht in der Stadt. Nicht in den Gängen darunter.«
Enkidu stieß ein wütendes Zischen der Enttäuschung aus.
»Und du bist dir da ganz sicher?« fragte Gilgamesch.
»Dieser dein Palast hier, König Gilgamesch, ist ein Haus aus Steinen, und um ihn zu betreten, mußt du durch ein Tor gehen. Diese Stadt Uruk ist umgürtet von einer Wallmauer aus Ziegelsteinen, und um nach Uruk zu gelangen, mußt du ebenfalls durch ein Tor gehen. Doch das Land der Lebenden betritt man nicht, wie man in deinen Palast gelangt, oder in die Stadt Uruk, also nicht durch eine Öffnung, durch die du hindurchgehen kannst, von dem einen Ort an einen anderen, von außen nach innen, von einer Seite zur anderen. Du kannst über die ganze Weite der Nachwelt wandern, aufwärts und hinab, aber du wirst kein solches Tor finden.«
Wieder zischte Enkidu zwischen den Zähnen, lauter als zuvor, dann wandte er sich weg, verkrampfte seine mächtigen Fäuste und schlug sie wieder und wieder gegeneinander.
Gilgamesch sprach: »Dann ist es also nur ein dummes Ammenmärchen, daß wir von dieser Welt aus ins Land der Lebenden gelangen können? Ein Traum, eine Erfindung, leere Phantasie?«
Wieder schwieg der Haarmensch lange, und dann sprach er so undeutlich, daß Gilgamesch nur die eine oder andere abgerissene Silbe verstand, der Rest der Rede ging im Bart des Behaarten verloren.
»Was sagtest du da?« bat Gilgamesch. »Sag es mir noch einmal, sei so gut.«
»Ich sagte, o König, daß man das Land der Lebenden wirklich erreichen kann. Doch der Weg dahin ist kein Pfad, wie du ihn verstehst, und man gelangt auf ihn nicht durch ein Tor. Der Pfad ist nirgendwo und überall, in Brasil und nicht in Brasil, in Uruk und nicht in Uruk, in der Wüste und nicht in der Wüste.«
Stirnrunzelnd sagte Gilgamesch: »Solche Worte sind für mich ohne Sinn. Ein Ding ist entweder da oder es ist nicht da. Man kann an einen Ort gelangen — oder nicht. Und du sagst, nein. Du sagst, es gibt einen Weg dorthin, tatsächlich, aber man muß einen Weg einschlagen, der kein Weg ist, und der Weg ist da und auch wieder nicht da, und…« Gilgamesch schüttelte den Kopf. »Ich verstehe dich ganz und gar nicht.«
Der Behaarte Mann sagte: »Diese Dinge sind auch nicht leicht zu verstehen. Und es ist nicht leicht, den Weg zu finden. Ohne die Hilfe eines Wegkundigen findest du ihn nie.«
»Und wo finde ich einen, der den Weg kennt?«
»Du hast ihn bereits gefunden, o König. Ich kann dir den Weg weisen, den du suchst.«
»Du? Wie kannst du das?«
»Wenn du aufrichtig dieses Land zu besuchen begehrst, kann ich dich hinsenden. Du glaubst mir nicht? Es gibt eine Möglichkeit, den Weg aufzutun, und ich kenne sie.«
Enkidu stieß ein Keuchen aus und wandte sich plötzlich wieder um. Er schien auf einmal doppelt so groß wie sonst. Seine Augen loderten wild.
»Da, hörst du es?« fuhr er Magalhaes wütend an. »Hörst du es?« Und zu Gilgamesch sagte er mit bebender Stimme: »Bruder, bewege ihn dazu, uns das Geheimnis sogleich zu sagen! Wir müssen dort hingehen, du und ich! Wir müssen den Weg finden und ihn bis zu seinem Ende gehen! Oder willst du lieber noch einmal zehntausend Jahre in Uruk herumsitzen und feist werden? Was, Bruder? Heh?«
Gilgamesch starrte den Behaarten Mann verwirrt an. »Du hast mir nie ein Wort über dies gesagt. Wie kommt es, daß du nie davon gesprochen hast?«
Über das tierhafte Gesicht huschte beinahe so etwas wie ein Lächeln.
»Ach, König Gilgamesch! Du hast mich nie gefragt!«
Es war eine lange finstere Nacht, unterbrochen von hastigen, kümmerlichen Sonnenaufgängen und dem Tanz unvertrauter gelber Monde am Himmel. Gilgamesch strich durch die Straßen von Uruk. Es wehte ein beißender, ätzender Wind. Zeitweilig trug er Schauer von etwas Schneeähnlichem heran, das die Dächer mit kurzlebigen weißen Flecken bestäubte; als er eine Handvoll davon aufhob, brannte es auf der Haut wie feine Asche aus dem Schlund eines Vulkans oder wie weicher gemahlener Bimsstein.
Zerbrechliche, aber scheußliche Nachtgeschöpfe, so durchsichtig wie Träume, schwirrten in Schwärmen um ihn und fletschten lange blitzende Zähne, von denen fahles Gift troff. Er scheuchte sie fort, als wären sie Mücken. Ein kurzstämmiger stoppeliger Baum mit Blättern wie lange fettverschmierte Federn schien ihn auszulachen. Mitten in der Luft taten sich Toreingänge vor ihm auf, doch hinter ihnen war nichts. Die gepflasterten Straßen wogten wie die Oberfläche einer stürmischen See.
Während er durch die dunkle Stadt schweifte, beherrschte ihn ein Gedanke, ein einziger.
Du wirst erneut von Enkidu getrennt werden, oder aber du mußt den Thron in Uruk aufgeben. Und wenn du ihn aufgibst, wirst du ihn niemals wiedergewinnen. Und wenn du Enkidu auch diesmal verlierst, wirst du ihn niemals wieder finden können.
Er erinnerte sich an eine Zeit, damals im alten Leben, da Enkidu kränklich geworden war und düster und bedrückt den ganzen Tag lang dasaß, und Gilgamesch ging hin und trat zu ihm und sagte, daß er wüßte, was ihn bedrückte, und dieses sei, daß er unruhig und des verweichlichten bequemen Stadtlebens überdrüssig und es leid sei, müßig in Uruk herumzuhängen, daß er sich nach Abenteuern sehnte, nach Gefahren und gewaltigen Taten, die seinen Namen leuchten lassen würden vor allen Menschen.
»Ja, genau das ist es, Bruder«, sagte Enkidu.
Und Gilgamesch gestand, daß es auch ihm so gehe, daß auch in ihm etwas nicht zur Ruhe komme, das ihn zu immer weiterem Suchen und Fragen antrieb, ein nie zu stillendes Sehnen. Die Götter hatten sich einen Jux mit ihm erlaubt, sagte Gilgamesch, daß sie ihn so schufen, daß er sich unablässig nach einem geruhsamen friedlichen Leben sehnen müsse, aber sobald er es gefunden hatte, niemals davon befriedigt sein durfte.
Da lachte Enkidu und sprach: »Wir sind wie zwei große Jungen, die ständig auf der Suche nach neuem Spaß sind.«
Das war die Zeit, als sie gemeinsam ins Land der Zedern zogen, um das kostbare Holz heimzuführen, daß dort im Wald wuchs, und wo sie dem Dämon Huwawa begegneten, den sie in seiner Feuerhöhle erschlugen, und von wo sie im Triumph nach Uruk heimkehrten, so lustig und froh, als hätten sie sechs Königreiche erobert.
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