Am erstaunlichsten aber waren die Augen: dunkel, glänzend und riesig groß, so groß, daß sie beinahe die ganze obere Gesichtshälfte einnahmen. Diese Augen kannte Gilgamesch. Er hatte sie früher gesehen — und sie niemals vergessen können.
»Vater?«
»Ja. Ich bin Lugalbanda.«
Gilgamesch ließ sich auf beide Knie nieder. Und dennoch hatte er das Gefühl, als saugte ihn eine Strömung hinein in diese weiten dunklen Augenteiche, so daß er auf ewig in der Seele seines Vaters untergehen müßte.
»Wie großartig du bist, mein Sohn«, sagte Lugalbanda. »Komm zu mir. Näher. Näher.«
»Vater…«
Lugalbanda lächelte. Seine Stimme kam polternd von sehr weit oben. »Ach, Gilgamesch, Gilgamesch, du warst ja noch ein kleiner Junge, als ich fortging. Trotzdem habe ich schon damals erkannt, daß du eines Tages ein König sein würdest. Ich hätte so gern um dich sein wollen, um zu sehen, wie du zu deiner Mannheit heranwächst. Aber die Götter nahmen mich zu früh zu sich.«
»Ja. Ich war sechs Jahre alt.«
»Sechs, ja. Aber auch bevor ich starb, sah ich dich so selten. Es gab so viele Kriege, in denen ich kämpfen mußte. Und die Sühnepilgerfahrten danach, die heiligen Tempel, die besucht werden mußten…«
»Du hattest mir versprochen, daß du später Zeit haben würdest für mich«, sagte Gilgamesch. »Dann wollten wir zusammen den Löwen jagen, versprachst du, und du wolltest mich alle die Dinge der Mannheit lehren.«
»Aber es konnte nicht geschehen«, erwiderte ihm Lugalbanda.
»Auch nach deinem Tod glaubte ich immer noch weiter, daß du zurückkehren würdest«, sagte Gilgamesch. »Vielleicht habe ich das mein ganzes Leben lang geglaubt, daß ich dich eines Tages wiederfinden würde.«
»Und hier bin ich.«
»Bin ich tot, Vater?«
»Tot? Ja. Ja, natürlich. Wir sind alle Tote.«
»Ich meine, werde ich nun Schlaf finden und Ruhe? Werde ich eingehen in die große Dunkelheit und niemals mehr erwachen müssen?«
»Ach«, sagte Lugalbanda, »aber unsere Seelen sind ewig lebendig. Hast du denn dies nicht gelernt auf deiner langen Suche?«
Gilgamesch schwieg und starrte zu der unermeßlich hohen Gestalt hinauf, die den Abgrund vor ihm ausfüllte. Nach einiger Zeit sprach er: »Manchmal glaube ich, daß ich überhaupt nichts begriffen habe, Vater.«
Lugalbanda lächelte und streckte ihm eine riesenhafte Hand entgegen.
»Komm näher, Gilgamesch. Und leg deine Hand in meine.«
»Ja, Vater.«
»So. Ja, so.« Ihre Hände berührten sich. Und ein so gewaltiger Kraftstrom durchfloß Gilgamesch, daß er beinahe zum zweitenmal auf die Knie gefallen wäre, doch er hielt sich aufrecht, nahm die Kraft entgegen und in sich auf. Die Größe und Majestät Lugalbandas waren überwältigend. Die Augen Lugalbandas waren wie Sonnen über ihm. Endlich begegne ich meinem Vater, dachte Gilgamesch. Und er ist ein Gott.
Gelassen sprach dann Lugalbanda: »Ich sage dir nur dies eine, mein Sohn Gilgamesch, und das weißt du bereits, obwohl du glaubst, du hättest es vergessen: Es gibt keinen Tod. ES GIBT DEN TOD NICHT. Es gibt nur die Verwandlung, und die Verwandlung führt nur zu erneuter Geburt und erneutem Leben. Deine Seele wandert immer weiter, voll Freude und Erstaunen, durch alles, was da kommen will; und wenn alles geschehen ist, so wird es wieder und wieder und immer wieder geschehen, ohne Ende und ohne zu verblassen. Wir sind unzerstörbar, auch wenn wir sterben und wie Asche zerstreut werden im Zeitenwind, denn wir werden immer wieder zusammengeführt und neugeboren. Und dies ist die Wahrheit über die Welt, Gilgamesch. Und es ist die einzige Wahrheit: Es gibt keinen Tod! Verstehst du mich, Gilgamesch? Verstehst du, begreifst du das?«
»Doch, ich glaube, ich verstehe es. Ja, Vater.«
»Das ist gut. Dann geh nun. Geh. Und nimm meinen Segen mit dir.«
Und dann bekam Gilgamesch den Eindruck, als beginne die Gestalt Lugalbandas zu schwanken und immer mehr zu verblassen.
»Vater? Vater, werde ich dich denn wiedersehen?«
»Aber gewiß.«
»Vater! Vater!«
»Geh nun«, befahl Lugalbanda. »Alles ist bereit und wartet auf dich.«
Gilgamesch versuchte, die Hand seines Vaters festzuhalten, doch es ging nicht, die Hand besaß keine Festigkeit mehr, sie war nur noch eine Schattenhand, und dann war sie ganz verschwunden, und da war nichts mehr, und er stand allein und mußte blinzeln gegen die plötzliche Helligkeit, die über ihn hereinbrach. Über dem Horizont zuckten Blitze. Aus dem Osten fuhr ein Wind herein, scharf wie eine Klinge, fegte das flache Land kahl und wirbelte Wolken graubraunen Staubes auf. Und er trug einen Bogen in der Hand, seinen eigenen Bogen aus mehreren edlen Hölzern gefügt, seinen Bogen, den kein anderer Mann zu spannen stark genug war, außer ihm — ihm und Enkidu. Er kannte diesen Ort hier wieder. Ja, wirklich, er war früher schon hier gewesen. Es war die Nachwelt. Es war das Outback, das öde Hinterland, in dem er so lange Zeit auf Jagd gegangen war. Er kniff die Augen zusammen und spähte in die Ferne. Über die weite Ebene her bewegte sich eine Gestalt auf ihn zu. Es war ein Mann, ein starker, von Leben strotzender Mann, ein Mann, den er so gut kannte, wie er sich selber kannte. Es war Enkidu, sein Enkidu, und er lächelte und winkte ihm zu. »Bruder!« rief er laut. »Heil dir, Bruder!« Und auch Gilgamesch lächelte und winkte zurück und rief ihm freudig einen Gruß entgegen und ging auf ihn zu.
Robert Silverberg
Das Land der Lebenden
Roman
Aus dem Amerikanischen übersetzt von
ROLAND FLEISSNER
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 0605542
Titel der amerikanischen Originalausgabe
TO THE LAND OF THE LIVING
Deutsche Übersetzung von Roland Fleissner
Das Umschlagbild malte Boros Attila
Redaktion: Wolfgang Jeschke
Copyright © 1990 by Agberg Ltd.
Erstveröffentlichung by
Popular Library/Warner Books, New York
Mit freundlicher Genehmigung des Autors und Paul & Peter Fritz, Literarische Agentur, Zürich (# 18802)
Copyright © 1996 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München
Printed in Germany 1996
Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München
Technische Betreuung: M. Spinola
Satz: Schaber Satz- und Datentechnik, Wels
Druck und Bindung: Elsnerdruck, Berlin
ISBN 3-453-11886-3
Ich führe zu der Stadt voll Schmerz und Grausen,
Ich führe zu dem wandellosen Leid,
Ich führe hin, wo die Verlornen hausen.
Ihn, der mich schuf, bewog Gerechtigkeit;
Mich gründete die Macht des Unsichtbaren,
Die erste Lieb’ und die Allwissenheit.
Geschöpfe gibt es nicht, die vor mir waren,
Als ewige, die selbst ich ewig bin
Laßt, die ihr eingeht, alle Hoffnung fahren —