»Es ist nur ein Märchen«, sagte Magalhaes sofort. »Das Land der Lebenden kann niemand erreichen. Ich bin davon überzeugt, und Draco ist davon überzeugt, und Cook ebenfalls, der auch ein bedeutender Seefahrer ist. Und das sind Männer, die ich kenne und denen ich vertraue, Draco und Cook, sie haben beide die Welt umsegelt, genau wie ich, und wer einmal eine solche Reise getan hat, der kann nie wieder sein wie gewöhnliche Menschen. Was er sieht, das sieht er mit wachen Augen und in Wahrheit.«
»Möglich.«
»Draco hat danach gesucht, so sagte er mir. Und Cook auch. Sie sind zu den fernsten Winkeln der Nachwelt gefahren, sogar hinein in die Große Unendliche See. Würden sie denn noch hier sein, wenn sie das Tor zum Land der Lebenden gefunden hätten? Aber ich habe Draco erst letzten Monat getroffen und Cook vor knapp fünf Jahren, und sie sagten nichts zu mir über Tore oder andere Welten, obwohl sie mir bestimmt etwas darüber gesagt hätten. Wenn sie es nicht gefunden haben, dann deshalb, weil es nicht existiert. Du kannst dich auf mein Wort verlassen.«
»In diesem Fall…« Doch Gilgamesch wurde von einem Lärm im Gang vor dem Thronsaal gestört; ein Stampfen, lautes mißtönendes Singen, herzhaftes Gelächter, schallendes Händeklatschen — die gewöhnlichen Signale, die Enkidus Nahen verkündeten —, und dann kam Enkidu selbst voll Übermut hereingetollt, ganz erhitzt und schweißtriefend, das lange feuchte Haar hing in zerzausten Zotteln herab, das Kleid war zerknittert. Der Geruch von Helenas Parfüm wehte mit ihm herein.
»Gilgamesch!« brüllte er. »Ich hab’ es! Das große Geheimnis — ich habe es herausgefunden!«
»Ach du liebe Zeit, ich hätte es ihm sagen können«, murmelte Herodes, »dabei habe ich noch kein Wort mit dem Weib gewechselt. Es ist ganz einfach: auf jeder Seite eine Brustkugel, so ist sie gebaut, und weiter unten ein Pölsterchen von dunklen Haaren, wo sich die Beine treffen, und sie stößt kleine sanfte Laute aus, wenn man sie da berührt…«
Gilgamesch gebot ihm mit einem scharfen Zischen, er solle schweigen.
»Was für ein Geheimnis ist es denn, Bruder?« rief er, während Enkidu schwankend wie ein Matrose auf Deck herankam.
»Der Weg ins Land der Lebenden! Ich weiß, wie man ihn finden kann!«
Gilgamesch blickte stirnrunzelnd zu Magalhaes, der nur die Achseln zuckte.
»Dieser Seefahrer hier hat uns gerade erklärt, daß es in der ganzen Nachwelt kein derartiges Tor gibt.«
»Dieser Seefahrer irrt sich. Ich habe es aus vertrauenswürdiger Quelle, und wenn ein Mann das bestreitet, so will ich ihn dafür zur Rechenschaft ziehen, daß er mich einen Lügner heißt.«
Magalhaes blickte unbeeindruckt zu Enkidu empor, der fast doppelt so groß wie er über ihm aufragte. »Ich erklärte nur, daß ich glaube, dieses Tor gehört in das Reich der Fabeln, bevor du hier hereingekommen bist. Wer dennoch an seine Existenz glauben möchte, kann dies gern weiterhin tun, es wird mich nicht stören, auch werde ich sie nicht der Lüge bezichtigen. Es gibt Menschen, die behaupten, daß die Welt flach ist, und die sind ebenfalls keine Lügner. Sie sagen nur die Wahrheit, an die sie glauben. Man braucht nicht zu lügen, um etwas zu sagen, was nicht wahr ist.«
»Wer ist dieser kleine Kerl?« brüllte Enkidu und hob beide geballten Fäuste. »Wieso ist er hier, und wieso erlaubst du ihm, mich zu verspotten? Bei Enlil, ich werde…«
»Frieden, ihr beiden«, gebot Gilgamesch und gab Vy-otin ein Zeichen, zwischen die beiden zu treten. Er wartete ein wenig, bis Enkidu sich etwas beruhigt hatte, dann sprach er: »Also, Bruder, berichte uns, was du erfahren hast.«
Enkidu schaute sich mürrisch um. »Vor diesen…«
»Vor Herodes, Vy-otin, ja. Weshalb nicht?«
»Und dem da?« Er wies auf Magalhaes.
»Er ist ein großer Seefahrer, ein Mann mit großem Wissen von den Straßen dieser Welt und der anderen. Er steht jetzt in unseren Diensten. Wir vertrauen ihm. Du kannst vor ihm sprechen, Enkidu.«
»Also…« Enkidu schüttelte den Kopf. »Es war die Frau, Helena, die mir das gesagt hat, sie, die mit Raleigh herkam.«
Herodes kicherte.
»Werden sie mich heute alle verspotten?« rief Enkidu.
»Sei still, Herodes! Weiter, was hat Helena dir gesagt über…«
»Sie und Raleigh zogen, wie wir wissen, durch das Outback im Auftrag von Raleighs Königin, die Elizabeth heißt und die den Weg ins Land der Lebenden sucht. Raleigh hat eine Landkarte, oder vielmehr der kleine Kerl Hakluyt hat eine, der ihm als Führer dient, und Helena hat sie gesehen. Da steht ganz deutlich, wo die Öffnung in die andere Welt sich befindet.«
»Und wo ist dieser Ort?« fragte Gilgamesch.
Erneut zögerte Enkidu und schaute Magalhaes düster an.
»Raus damit, Enkidu! Wo ist es?«
»Auf Brasil«, sagte Enkidu.
»Brasil?«
»Ja, die Insel Brasil. Simons Stadt, in der dir die Erkenntnis zuteil wurde, die dich hierher geführt hat, Bruder.«
Gilgamesch war verblüfft. »Ja, ich fand wirklich, daß Raleigh erstaunt aussah, als ich erwähnte, daß ich früher einmal in Brasil gewesen bin. Ich erwähnte den Namen kaum, da wurde er kurzatmig und riß die Augen weit auf. Aber nein, Enkidu, nein, wie könnte so etwas sein? Ich war doch dort. Ich hätte doch gewiß etwas davon gehört.«
»Hast du danach gefragt?«
»Wieso hätte ich so etwas fragen sollen? Solange ich in Brasil weilte, kam mir kaum je ein Gedanke an ein Land der Lebenden.«
»Siehst du? Siehst du?«
Gilgamesch sah Herodes an. »Du hast viele Jahre in Brasil gelebt. Was kannst du dazu sagen? Gibt es dort diesen Weg, oder nicht?«
»Also, ja, es gab da so Geschichten«, sagte Herodes ausweichend. »Daß die Tunnelgänge unter der Stadt dorthin führten, vielleicht, und allerlei ähnliche Märchen. Ich habe nie besonders darauf geachtet. Ich habe nie auch nur ein Zehntel von den phantastisch klingenden Sachen geglaubt, die man sich in dieser Stadt herumerzählte. Vielleicht nicht einmal den hundertsten Teil.«
Gilgameschs Blick verlor sich in der Ferne. Bei den Worten Herodes’ erwachte wieder das Bild der dunklen Schächte im Bauch der Insel Brasil, in denen Calandola und seine Menschenfresserhorde lauerten. Ja doch, auch er hatte es vernommen, mehr als nur einmal, daß sich irgendwo in diesen Tunnelgängen der Weg ins Land der Lebenden finden lasse. Nun fiel es ihm wieder ein. Doch es gab uralte Gänge unter vielen der Städte der Nachwelt, unter Nova Roma, unter Elektrograd, unter Nibelheim, vielleicht gar unter Uruk, wer konnte das schon wissen. Und in diesen Städten hörte man oft hinter vorgehaltener Hand flüstern, daß man durch einen der unterirdischen Gänge aus der Nachwelt entrinnen könne. Aber geflüsterte Gerüchte bedeuten schließlich nicht, daß sie wahr sind. Niemand wußte mehr, wer diese Gänge gegraben hatte und aus welchem Grund. Es waren nichts weiter als dumpfe Höhlungen, staubig, unheimlich, widerlich, vor langer Zeit bereits verlassen. Gilgamesch sah keinen Grund, ihnen eine besondere magische Bedeutung zuzuschreiben. Es hat immer schon Leute gegeben, die das Licht das Tages scheuten, dachte er, und sich lieber in den Eingeweiden der Erde vergruben. Aber weshalb sollte er dann glauben, daß diese Irrgänge, die von vergessenen Mineuren vor langer Zeit in der Nachwelt gegraben wurden, irgendwohin führen sollten als nutzlos im Kreise?
Er sagte, nach geraumer Zeit: »Wo ist mein Haariger Mann? Wir wollen ihn dazu befragen.«
»Er wartet in der Vorhalle«, berichtete Herodes.
Enkidu sagte: »Wäre es nicht großartig, das Land der Lebenden zu sehen, Bruder? Du und ich — und Helena?«
»Aha, und Helena, ja?«
»Ja, sie würde mit uns kommen. Sie wird uns führen auf dem Weg, und alle Hindernisse werden vor ihr zunichte werden.« Enkidus Augen leuchteten. »Ach, Gilgamesch, mein Bruder, du hast nie ein Weib wie sie gesehen! Sie ist ein Wunder! Eine Göttin!«
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