Der feste lange starre Blick ließ ihn nicht los. Gilgamesch kämpfte gegen den flammenden Schmerz in seinem Arm an und erwiderte den Blick des Kaisers mit einem ebenso festen und ernsthaften Blick seinerseits. Er sagte:
»Garnichts? Es ist ein Land, das es niemals gab und immer geben wird, mein Lord. Es hat keine Grenzen, und seine Hauptstadt ist überall, und keiner von uns verläßt das Land jemals.«
»Ah. Ah. Wirklich, ganz hübsch ausgedrückt. Du bist ein Früher Toter, ja?«
»Ein sehr früher, mein Lord.«
»Früher als Ch’in Shih Huang Ti? Früher als die Herrscher von Shang und Hsia?«
Gilgamesch wandte sich verwirrt an Lovecraft, der ihm zuflüsterte: »Uralte Herrscher in China. Deine Zeit lag noch vor ihnen.«
Gilgamesch zuckte eine Achsel. »Sie sind mir nicht bekannt, mein Lord, aber du hörst ja, was der Gesandte aus Britannien sagt. Er ist ein gelehrter Mann, also muß es wohl so sein. Ich will dir also sagen, daß ich viel älter bin als Caesar, älter als Amenhotep, älter als Belshazzar. Viel älter.«
Yeh-lu Ta-shih überdachte dies kurz. Dann machte er wieder diese knappe Geste der Entlassung, als wischte er die ganze Konzeption der Altersprioritäten in der Nachwelt beiseite. Er lachte trocken. »Also bist du sehr alt, König Gilgamesch. Ich beglückwünsche dich dazu. Trotzdem würde uns das Eisjägervolk versichern, daß du und ich und deine Belshazzars und Amenhoteps, wer immer die sein sollen, allesamt erst gestern hier eingetroffen sind, und aus der Sicht der Haarmenschen sind sogar die Eisjäger selbst einfach Neulinge. Und so weiter und so fort. Es hat keinen Anfang, oder? Ebenso wenig wie es ein Ende gibt.«
Und ohne seine Antwort abzuwarten, fragte er danach Gilgamesch: »Woher hast du diese scheußlich aussehende Wunde, König von Garnichts?«
»Ein Mißverständnis, mein Lord. Es könnte sein, daß deine Grenzsoldaten zuweilen etwas zu großen Eifer zeigen.«
Einer der Höflinge beugte sich zu dem Herrscher und murmelte etwas. Dessen glatte Stirn runzelte sich, und er hob eine makellos geschwungene Braue kaum merklich.
»Du hast neun von ihnen getötet, ja?«
»Sie griffen uns an, ehe wir die Möglichkeit hatten, ihnen unsere Diplomatenpässe zu zeigen«, warf Lovecraft hastig ein. »Es war reine Selbstverteidigung, mein Lord.«
»Daran zweifle ich nicht.« Der Kaiser schien einen Augenblick über das Scharmützel nachzudenken, das neun seiner Reiter das Leben gekostet hatte, aber kurz darauf entließ er auch diese Erwägungen aus dem Fokus seines Interesses.
»Und nun, meine Herren Gesandten…«
Plötzlich schwankte Gilgamesch, taumelte, begann zu fallen. Er fing sich gerade noch rechtzeitig, griff nach einer dicken Porphyrsäule und hielt sich fest, bis er sich wieder sicherer fühlte. Schweiß rann ihm über die Stirn und in die Augen. Ein Frösteln überlief ihn. Der gewaltige Steinpfeiler schien sich zu dehnen und wieder zu schrumpfen. Übelkeit schwoll in ihm auf und ab, plötzlich sah er alles doppelt. Alles verschwamm und wurde vielfach. Er holte tief Luft, wieder und wieder und wieder, und zwang sich, es durchzuhalten. Er fragte sich, ob dieser Priester Johannes irgendein Spiel mit ihm treiben wollte, oder er sehen wollte, wie lange er durchhalten konnte. Nun, wenn es sein mußte, schwor er sich, dann würde er ewig weiter vor diesem Priesterkaiser stehen, ohne sich ein Zeichen von Schwäche anmerken zu lassen.
Doch nun schien Yeh-lu Ta-shih endlich bereit, Mitgefühl zu erweisen. Mit einem Blick zu einem der Pagen sagte er: »Holt meinen Leibarzt und sagt ihm, er soll seine Instrumente und seine Tränke mitbringen. Diese Wunde hätte schon vor einer Stunde versorgt werden müssen.«
»Ich danke dir, mein Lord«, murmelte Gilgamesch, bemüht, nicht zu stark ironisch zu klingen.
Der Arzt erschien beinahe sogleich, als hätte er schon im Antechambre gewartet. Wieder eines von den kleinen Spielchen, die sich der Priester Johannes gönnte? Vielleicht. Der Arzt war ein grobschlächtiger, breitschultriger Wuschelkopf von nicht mehr sehr jungen Jahren, und seine Art war knapp und scharf und geschäftsmäßig, aber dennoch warm, besorgt und vertraueneinflößend. Er zog Gilgamesch neben sich auf einen niederen Diwan, der von der graugrünlichen Haut eines schuppigen Höllendrachens bedeckt war, er spähte in die Wunde, brummte etwas Unverständliches in einer unbekannten Sprache vor sich hin und drückte mit seinen dicken Fingern auf das zerfetzte Fleisch, bis frisches Blut herausfloß. Gilgamesch holte scharf Luft, zuckte aber nicht zusammen.
»Ach, mein lieber Freund, leider muß ich Ihnen noch einmal weh tun, aber es ist zu Ihrem eigenen Besten. Verstehen Sie das?«
Die Finger des Arztes gruben tiefer. Er zog nun die Wunde auseinander, tupfte sie aus und reinigte sie mit einer hellen Flüssigkeit, die wie ein glühendes Eisen sengte. Der Schmerz war derart scharf, daß er schon beinahe wieder lustvoll war; es war ein reinigender Schmerz, eine Säuberung der Seele.
Der Priester Johannes fragte: »Wie schlimm ist es denn, Dr. Schweitzer?«
»Gott sei Dank, es ist zwar tief, aber ein sauberer Durchschuß. Das heilt ohne Folgeschäden.«
Er sondierte und reinigte die Wunde weiter und redete dabei leise auf Gilgamesch ein: »Bitte noch einen Augenblick, mein Freund.« Zum Priesterkönig sagte er: »Der Mann ist aus Stahl. Überhaupt keine Nerven, enormen Widerstand gegen Schmerz. Hier haben wir einen der Großen Helden, nicht wahr? Du bist Roland, ja? Oder vielleicht Achilles?«
»Gilgamesch ist sein Name«, sagte Yeh-lu Ta-shih.
Die Augen des Arztes begannen zu leuchten. »Gilgamesch! Gilgamesch aus Sumer? Wunderbar! Wunderbar! Der wahre Mann schlechthin. Der Sucher nach dem Ewigen Leben. Oh, wir müssen uns unterhalten, mein Freund, du und ich, wenn es dir wieder besser geht.« Dann zog er aus seinem Arztkoffer eine schrecklich wirkende Injektionsspritze. Gilgamesch sah zu wie aus weiter Ferne, als gehörte der geschwollene schmerzpochende Arm einem anderen. »Jaja, wir müssen uns ganz bestimmt unterhalten, über das Leben, über den Tod, über Philosophie, mein Freund, über die Philosophie! Wir haben so viele Dinge zu besprechen!« Er stach Gilgamesch die Nadel unter die Haut. »Also. Genug. Bleib still und ruh dich aus. Jetzt setzt der Heilungsprozeß ein.«
Robert Howard hatte nie etwas Vergleichbares gesehen. Es hätte direkt den Seiten einer seiner Conan-Geschichten entsprungen sein können. Dieser große Ochse hatte einen glatten Pfeildurchschuß im Armmuskel abbekommen, hatte das Geschoß einfach herausgerissen und unbeirrt weitergekämpft. Und hinterher hatte er sich betragen, als sei die entzündete Wunde nur ein Kratzer, während sie Stunde um Stunde zur Residenzstadt des Priesterkönigs Johannes gefahren waren, und dann hatte er die langwierigen Befragungen durch die Hofbeamten über sich ergehen lassen und hatte diese ganze endlose Empfangszeremonie standhaft und auf den Beinen durchgehalten — Allmächtiger, was für eine Demonstration von Ausdauer und Durchhaltevermögen! Gewiß, am Ende war Gilgamesch ein wenig wackelig geworden, und es hatte so ausgesehen, als könnte er ohnmächtig werden. Aber jeder gewöhnliche Sterbliche wäre dabei längst zusammengebrochen. Aber Helden waren eben wirklich anders. Sie gehörten einer völlig anderen Rasse an. Sieh ihn dir doch nur an, wie gelassen er dasitzt, während dieser alte elsässische Doktor ihm die Wunde ausputzt und ihn so beiläufig grob zusammenflickt, und er gibt keinen Laut von sich! Kein Stöhnen!
Howard verspürte plötzlich das Verlangen, zu Gilgamesch hinüberzugehen, um ihn zu trösten, ihm den Kopf an seine Brust zu ziehen, während der Doktor Schweitzer ihn verarztete, ihm den Schweiß von der Stirn zu wischen…
Ja doch, ihm offen, auf linkisch-männliche Weise Trost und Beistand zu leisten…
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