Eine Tanzgruppe erschien, Männer und Weiber in weiten durchsichtigen Gewändern. Sie vollführten Kunststücke mit Schwertern und lodernden Fackeln. Ein anderer Beschnittener brachte Gilgamesch eine Schale mit geheimnisvollen süßen Köstlichkeiten, und er griff mit beiden Händen zu. Er hatte rasenden Appetit. Sein Körper, der zu heilen begann, verlangte energisch nach Energiezufuhr. An seiner Seite schüttete der Mann Howard die Stutenmilch in sich hinein wie Wasser und wurde zusehends betrunkener, und der andere, der Lovecraft hieß, saß kränklich-trübsinnig da, sah den Gauklern zu und rührte nichts an. Es sah aus, als schüttelte es ihn, wie wenn er mitten in einem Schneesturm wäre.
Gilgamesch winkte ein zweites Gemäß vergorener Stutenmilch heran. Und in diesem Augenblick kam der Arzt an und ließ sich fröhlich auf dem Fellberg neben ihm nieder. Dr. Schweitzer lächelte breit und zustimmend, als Gilgamesch einen kräftigen Schluck trank. »Fühlst du dich jetzt besser? Der Arm, er schmerzt nicht mehr, ja? Die Wunde, sie schließt sich bereits. So rasch heilst du! Was für eine Stärke, was für ein Heilungspotential! Lieber Gilgamesch, du bist ein echtes Gotteswunder! Der Segen des Allmächtigen ruht auf dir.« Er ergriff ein Trinkgefäß von einem vorbeikommenden Diener, trank und verzog das Gesicht. »Ach! Dieses Milchbier, das sie hier als Wein servieren! Und ach, ach, dieses entsetzliche Getöse, ihre verfluchte Musik! Was würde ich nicht dafür geben, einen Schluck anständigen Moselweins auf der Zunge zergehen zu lassen, ja, und wenn ich die D-moll-Tokkata und Fuge noch einmal hören könnte! Von Bach — kennst du ihn?«
»Wen?«
»Bach. Johann Sebastian Bach. Der gewaltigste Musiker, Gottes höchst eigener Klangdichter. Ich habe ihn gesehen, nur einmal, vor Jahren.« Die Augen Albert Schweitzers leuchteten. »Ich war hier neu. Noch keine zwei Wochen hier. Es war im Landhaus von König Friedrich — Friedrich II. von Preußen, weißt du, den sie den Großen nennen. Du kennst ihn? Nein? Der Alte Fritz? Na, macht nichts, macht nichts. Jedenfalls kam ein Mann in den Saal, ganz gewöhnlich, er wäre einem unter anderen nie aufgefallen, verstehst du? Und er fängt an, auf dem Cembalo zu spielen, und er hat noch keine drei Takte gespielt, da sage ich: Das ist Bach, das muß der echte Bach sein. Und ich wäre gern auf die Knie gesunken vor ihm, hätte ich mich nicht so geschämt. Aber er war es. Ich sagte mir: Wieso ist Bach hier in der Nachwelt, wenn die Nachwelt die Hölle ist, wie einige uns glauben machen wollen? Doch dann sagte ich mir, wie du vielleicht dir selber auch und wie jeder das hier früher oder später wird tun müssen: Wie kommt es, daß ich, Albert Schweitzer, hier in der Hölle bin? Und ich begriff, daß Gott ein unendliches Rätsel ist. Vielleicht wurde ich hier hergesandt, um die Verdammten ärztlich zu versorgen. Und Bach vielleicht ebenfalls, um unseren Seelen Linderung zu bringen. Oder vielleicht sind wir ja auch Verdammte. Oder vielleicht ist keiner hier verdammt. Und das ist es, was ich schließlich glaube, daß jene, die diesen Ort hier die Hölle nennen, einfach Narren sind. Wer weiß denn, was dies für ein Ort ist, oder weshalb wir hier sind, heh? Sie führen zu nichts, diese ganzen Spekulationen. Es ist ein Fehler oder peut-être eine Sünde, sich einzubilden, wir könnten verstehen, was Gott denkt! Wir sind hier. Wir haben unsere Aufgaben. Mehr brauchen wir nicht zu wissen.«
»So dachte auch ich einst«, sagte Gilgamesch. »Als ich noch König war in Uruk, in der anderen Welt, als mir endlich bewußt wurde, daß ich sterben mußte und daß es unmöglich ist, sich vor dieser Tatsache zu verstecken. Aber wozu denn das Ganze, fragte ich mich. Und ich sagte mir: Die Götter haben uns hierher gesetzt, damit wir unsere Aufgaben erfüllen, und darin liegt der ganze Sinn. Und so lebte ich danach, tat, wozu ich bestimmt war, so gut ich verstand, was die Götter von mir erwarteten, bis ich schließlich starb.« Gilgameschs Gesicht umdüsterte sich. »Aber hier… hier…«
»Auch hier haben wir unsere Aufgaben und Pflichten«, sagte Dr. Schweitzer.
»Du, vielleicht ja. Mir bleibt hier nichts anderes, als mir die Zeit zu vertreiben. Einst hatte ich einen Freund, der diese Bürde gemeinsam mit mir trug…«
»Enkidu.«
Gilgamesch ergriff mit plötzlicher Wildheit das kräftige Handgelenk des Arztes. »Du weißt von Enkidu?«
»Aus dem Epos, ja. Das Gedicht ist sehr berühmt.«
»Ach. Ach! Dieses Gedicht… Aber der Mann, der echte wirkliche Mann…«
»Von dem weiß ich nichts, nein.«
»Er ist von meiner Gestalt, sehr breit. Sein Bart ist dicht, sein Haupthaar zottig, seine Schultern sind sogar noch breiter als meine. Wir zogen überallhin gemeinsam. Doch dann zerstritten wir uns, und er verließ mich im Zorn und sagte: Komm mir nie wieder in die Quere. Und sagte: In mir ist keine Liebe mehr für dich, Gilgamesch. Und er sagte: Sollten wir einander wieder begegnen, will ich dich töten. Und seitdem habe ich nie wieder von ihm gehört.«
Dr. Schweitzer wandte sich ihm zu und sah ihn nachdenklich und forschend an. »Wie ist so etwas möglich? Alle Welt weiß doch von der Liebe Enkidus für Gilgamesch!«
Gilgamesch winkte einen weiteren Krug heran. Dieses Gespräch erweckte eine Pein in seiner Brust zum Leben, einen Schmerz, neben dem der Schmerz seiner Armverletzung nicht mehr war als ein leichtes Jucken. Und das Getränk half auch nicht, das wußte er, aber er würde dennoch trinken.
Nach einem tiefen Schluck sagte er düster: »Wir haben uns zerstritten. Es fielen hitzige Worte zwischen uns. Er hat gesagt, in ihm sei keine Liebe mehr für mich.«
»Das kann nicht wahr sein.«
Gilgamesch zuckte die Achseln, sagte aber nichts.
»Und du sehnst dich danach, ihn wiederzufinden?« fragte Dr. Schweitzer.
»Ja, nichts anderes.«
»Weißt du, wo er ist?«
»Die Nachwelt ist viel größer als die Welt, und diese ist schon so weit, daß ich Kopfschmerzen bekomme, wenn ich darüber nachdenke. Er könnte überall sein.«
»Du wirst ihn finden.«
»Wenn du wüßtest, wie sehr ich nach ihm gesucht habe…«
»Du wirst ihn wiederfinden. Ich weiß es.«
Gilgamesch schüttelte den Kopf. »Wenn die Nachwelt ein Ort der Strafe und Qualen ist, dann ist dies meine Strafe, daß ich ihn nie wiederfinden kann. Oder wenn ich es doch tue, wird er mir mit Verachtung begegnen. Oder die Hand wider mich erheben.«
»Nein, so ist das nicht«, erwiderte Dr. Schweitzer. »Ich denke, du fehlst ihm ebenso sehr wie er dir.«
»Warum hält er sich dann fern von mir?«
»Hier ist die Nachwelt«, sagte der Arzt sanft. »Ich vermute, wir sollen hier geprüft werden. Und so wirst vielleicht jetzt du geprüft, mein Freund; aber keine Prüfung dauert ewig. Nicht einmal in der Nachwelt. Nicht einmal hier. Selbst wenn du jetzt in der Nachwelt bist, vertraue auf die Güte des Herrn. Du wirst deinen Enkidu früh genug wiederfinden, um Himmels willen!« Dr. Schweitzer lächelte und sagte: »Der Kaiser wünscht dich zu sprechen. Geh zu ihm. Ich glaube, er hat dir etwas zu sagen, was du hören mußt.«
Der Priester Johannes sagte zu ihm: »Du bist doch ein Krieger, nehme ich an?«
»Das war ich«, antwortete Gilgamesch gleichgültig.
»Ein General? Ein Führer von Männern?«
»All dies habe ich weit hinter mir gelassen«, sagte Gilgamesch. »Hier ist das Leben danach. Ich gehe jetzt meiner Wege und übernehme keine Verantwortung mehr für andere. Es laufen hier genug Generäle herum!«
»Man hat mir gesagt, du warst ein alle überragender Heerführer. Man hat mir gesagt, du kämpftest wie der Gott des Krieges selbst. Wenn du auf dem Schlachtfeld erschienst, legten ganze Nationen die Waffen nieder und warfen sich vor dir in den Staub.«
Gilgamesch wartete und sagte nichts.
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