»Ist sie denn in den Seestern reingegangen?«
»So hat man mir gesagt. Ich war nicht dabei.«
»Und sie ist nicht wieder rausgekommen?«
»Sie ist nicht wieder rausgekommen.« Mr. Sandovals Stimme war ausdruckslos geworden.
Tess dachte darüber nach. »Ist sie gestorben?«
»Na ja, sie ist nicht wieder rausgekommen. Das ist alles, was ich weiß. Und deswegen habe ich ein bisschen verrückt reagiert, schätze ich.«
Tess empfand eine unbestimmte Unruhe darüber, dass er noch immer reglos im Bett lag. »Mr. Sandoval, wenn Sie sich nicht bewegen können, sollte ich vielleicht einen Arzt rufen.«
»Ich kann mich nicht bewegen. Wie gesagt, ich bin mir nicht mal sicher, ob ich wach bin. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass ich keinen Arzt brauche.«
»Ehrlich?«
»Ehrlich.«
»Warum sind Sie nach Blind Lake gekommen?«
»Um das zu töten, was hier wächst.«
Tess war schockiert. Wie Dad, dachte sie. Mr. Sandoval war hergekommen, um Mirror Girl zu töten.
Sie wich einen Schritt zurück.
»Es kommt mir wirklich verrückt vor«, sagte er. »Wenn ich hier so liege und zurückdenke. Komisch, was man zu tun bereit ist, wenn man jemanden verloren hat und nicht weiß, wem man die Schuld dafür geben soll. Es war natürlich zu spät, um irgendwas in Sachen Crossbank zu unternehmen, aber in den Nachrichten war von Blind Lake die Rede gewesen, davon, dass es zugemacht worden sei für den Fall, dass dort das Gleiche passiert. Das hat mich richtig sauer gemacht. Die müssten Bomben drauf schmeißen, habe ich gedacht, bombardieren und auslöschen, wenn auch nur die kleinste Möglichkeit besteht. Aber nein, es gab nur diese Quarantäne. Das war doch Hühnerkacke. Ich entschuldige mich für meine Ausdrucksweise.«
»Ist schon okay«, sagte Tess. »Aber wenn sie uns mit Bomben beworfen hätten, wären wir alle tot.«
Noch während sie das sagte, fragte sie sich, ob es wahr sei. Vielleicht hätte Mirror Girl verhindert, dass die Bomben ihr Ziel trafen. Konnte Mirror Girl so etwas tun? Mirror Girl schien jetzt ganz furchtbar nahe zu sein. Guck nicht zum Fenster, sagte sich Tess. Aber der Wind rüttelte an den Scheiben, als wolle er ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen, als wolle er sagen: Sieh mich an: Sieh mich an!
»Ich schätze, so viel weiß ich jetzt«, sagte Mr. Sandoval. »Ich war wohl zwischendurch ein bisschen durchgedreht. Ich dachte, ich könnte in mein Flugzeug steigen, könnte eine Flugroute über Fargo rauf nach Manitoba anmelden und dann an der richtigen Stelle einen kleinen Schlenker machen … Ich wollte genau in euer Teleskop fliegen, so viel Schaden anrichten wie möglich und dabei selbst zu Tode kommen.«
Das war die Wahrheit, begriff Tess. Teilchen von Mr. Sandovals alter Wut hingen in der Luft über seinem Bett, wie Schneeflocken. Die Sache war erwachsen und mysteriös und gleichzeitig irgendwie kindisch. Ein Plan, wie Edie Jerundt ihn sich hätte ausdenken können. Aber die Wut und die Trauer, die waren ganz und gar erwachsen. Wenn Mr. Sandovals Gefühle einen Geruch hätten, dachte Tess, dann würden sie nach etwas Kaputtem und Elektrischem riechen. Wie überhitzte Kabel und verschmorendes Plastik.
»Jetzt«, sagte Mr. Sandoval, »ist es natürlich zu spät dafür.«
»Ja, Ihr Flugzeug wurde abgeschossen.«
»Nein, ich meine, es hat jetzt schon angefangen. Spürst du es?«
Doch, fürchtete Tess, das konnte sie.
Marguerite wollte nur herausfinden, was die Leute von der Beobachtung so in Erregung versetzt hatte. Die Ambulanz war nahezu verlassen; Dr. Goldhar war, nachdem er Sue genäht und stabilisiert hatte, nach Hause gefahren; Rosalie Bleiler und einige Sanitäter hatten Nachtdienst, ansonsten war noch Sicherheits- und Hauswirtschaftspersonal da. Marguerite öffnete mehrere Türen, bis sie einen leeren Sitzungsraum fand. Sie ging hinein, machte die Tür von innen zu, um ungestört zu bleiben — obwohl sie nichts Unrechtes tat, hatte sie ein Gefühl von Heimlichtuerei —, und schloss ihren Pocket-Server an den im Raum vorhandenen großen Videobildschirm an.
Die Liveübertragung aus dem Auge kam augenblicklich und war gestochen scharf.
Es sah nach spätem Nachmittag auf UMa47/E aus. Nachmittagswinde wirbelten Staub auf, der den Himmel in ein muschelartiges Weiß tauchte. Das Subjekt schien seine geheimnisvolle Odyssee fortzusetzen, wanderte durch flache, erodierte Schluchten, genau wie gestern und auch vorgestern. Was war daran so ungewöhnlich? Es gab keine Texteinblendungen von der Datenerfassung, keine Erklärung für die offenbar herrschende Aufregung.
War es die ungewöhnliche Schärfe des Bildes? Vielleicht hatte die Ambulanz ein moderneres Display installiert; das Bild war lebendiger als alles, was Marguerite bisher gesehen hatte, sogar an den Bildschirmen im Auge selbst nicht. Durchsichtig wie ein Fenster. Sie konnte den Staub sehen, der sich an den Kamm des Subjekts heftete, jedes einzelne Körnchen. Fast konnte sie die trockene Brise im Gesicht spüren.
Dieses Geschöpf, dachte sie. Dieses Ding. Dieses Rätsel.
Subjekt folgte einem alten Flussbett um eine weitere Biegung, und plötzlich sah Marguerite das, was die Leute von der Datenerfassung schon vorher entdeckt haben mussten — etwas so Sonderbares, dass sie einen Schritt zurücktrat und fast über einen Stuhl gefallen wäre.
Etwas ungeheuer Fremdartiges. Etwas Künstliches. Vielleicht war es sogar das, was Subjekt die ganze Zeit suchte, das Ziel seiner Reise.
Es lag auf der Hand, warum dieses Gebilde bei der Überblickserkundung nicht erfasst worden war. Es war groß, aber nicht über alle Maßen groß, und seine Bögen und Säulen waren vom Staub der Jahre, wenn nicht Jahrhunderte, bedeckt. Wie eine Fata Morgana flimmerte es im Licht der Sonne.
Das Subjekt trat in den Schatten dieses Gebildes, mit so schnellen Schritten wie seit vielen Tagen nicht mehr. Marguerite bildete sich ein, sie könne seine großen schräg ausgestellten Füße über den steinigen Wüstenboden schlurfen hören.
Aber was stellte dieses Ding dar, groß wie eine Kathedrale, so offenkundig alt und so offenkundig vernachlässigt? Was hatte das Subjekt veranlasst, so weit zu reisen, um es zu finden?
Bitte, dachte sie, nicht noch ein weiteres Rätsel, nicht noch eine weitere unergründliche Handlung …
Das Subjekt durchschritt die ersten großen Gewölbebogen, der Schatten zeichnete die Konturen weich.
»Was willst du bloß hier?«, sagte Marguerite laut.
Subjekt drehte sich um und sah sie an. Seine Augen waren riesig, feierlich ernst und perlweiß.
Ein dünner trockener Wind zerzauste die losen Strähnen von Marguerites Haar. Sie sank staunend auf die Knie, griff nach dem Konferenztisch, versuchte sich festzuhalten. Aber es war nur feiner Sand, was sie zu fassen bekam, der Staub der Ewigkeit, der ausgetrocknete Boden von UMa47/E.
Als sich der Boden unter seinen Füßen bewegte und die Sirenen die Evakuierung des Auges verkündeten, war Ray bestürzt, aber nicht überrascht. Diese Entwicklung war unvermeidlich. Da war etwas zum Leben erwacht, und diesem Etwas gefiel das nicht, was Ray zu tun beabsichtigte.
Er jedoch war auf diese Konfrontation vorbereitet. Das wurde ihm zusehends deutlich. Ray war kein großer Anhänger von Schicksalslehren aller Art, doch in diesem Fall musste man ihnen eine nicht unbeträchtliche Erklärungskraft zubilligen. Alle möglichen Erfahrungen seines Lebens, die zunächst rätselhaft schienen — die Jahre der akademischen Grabenkämpfe, seine tiefe Skepsis hinsichtlich der Funktionsweise des Auges, seine so viele Jahre zurückliegende Einführung in die Riten des Todes —, offenbarten jetzt ihren Sinn. Sogar seine alberne Ehe mit Marguerite, ihre trübsinnige Starrköpfigkeit, ihr Unwille, ihm auch nur einmal entgegenzukommen in Dingen, die ihm wichtig waren. Ihre sentimentalen Vorstellungen über die Eingeborenen von UMa47/E. Dies waren die Steine, an denen Ray sich gewetzt hatte wie eine Klinge.
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