Der Albtraum, dem sie entronnen zu sein glaubte, würde weitergehen.
*
Natascha traute ihren Augen nicht, und bis sie begriff, dass sie düpiert worden war, sollten mehrere Sekunden vergehen. Sekunden, in denen sie durch die Hölle ging.
Nur ein paar Meter von der Bahnhofshalle entfernt, in der immer noch reger Betrieb herrschte, bekam Natascha von alldem nichts mehr mit. Auf einmal war da nur noch sie, Magda Jannowitz alias Natascha, Agentin des NKWD, und diese Frau, deren Namen, geschweige denn Identität, sie nicht kannte.
Sie konnte sich das alles nicht erklären. Beim besten Willen nicht.
Wie Natascha blitzartig bewusst wurde, war ihre Kontrahentin ausgesprochen hübsch, ja sogar attraktiv. Und das in einem Maße, dass sie, auf die Männer gewöhnlich flogen, sich in ihrer Gegenwart wie eine Landpomeranze vorkam. Dunkles Haar, geschwungene Brauen, ausdrucksstarker Blick–eine Nazi-Agentin sah weiß Gott anders aus. Zumindest in diesem Punkt war ihr Instinkt noch intakt. Diese Frau konnte alles Mögliche sein. Eine Handlangerin der Gestapo war sie ganz bestimmt nicht. Vielleicht war das auch der Grund, warum Natascha, die mit allen Wassern gewaschene NKWD-Agentin, die Waffe in ihrer Handtasche aus den Fingern gleiten ließ.
Die Frau ihr gegenüber, der nicht entgangen war, wer sich dort befand, lächelte. In diesem Moment war Nataschas Niederlage besiegelt. Dass daraus innerhalb kürzester Zeit ein Sieg werden würde, konnte sie in diesem Moment noch nicht ahnen. Sie stand einfach nur da, unfähig, das Heft in die Hand zu nehmen.
In der Frau, die das Schließfach abschloss, das Aktenbündel in einer Tragetasche verstaute und sie mit einem gewinnenden Lächeln anblickte, hatte Magda Jannowitz alias Natascha ihren Meister gefunden.
»Agentin im Dienst der Alliierten?«, fragte die Frau mit einer Selbstverständlichkeit, die Natascha auch noch den letzten Rest an Wind aus den Segeln nahm.
Das Einzige, wozu sie sich daraufhin aufraffen konnte, war ein Nicken. Danach blieb Natascha buchstäblich die Spucke weg.
»In diesem Fall, denke ich, könnte eine kurze Unterredung nicht schaden!«, schlug Rebecca vor, hängte ihre Tragetasche über die Schulter und bedeutete dem Traum aller Männer, ihr zu folgen.
»Im März 1947 machte der US-Ankläger in den Nürnberger Nachfolgeprozessen eine Entdeckung. Bei dem als ›Geheime Reichssache‹ gekennzeichneten und in einem Ordner des Auswärtigen Amts abgehefteten Dokument handelte es sich um ein Sitzungsprotokoll. An der Sitzung hatten 15 hochrangige Angehörige der Staatsbürokratie sowie von Dienststellen der SS und der NSDAP teilgenommen. Stattgefunden hatte sie am 20. Januar 1942 in einer Villa am Berliner Wannsee. Die US-Ermittler waren auf das einzige erhalten gebliebene Exemplar des Protokolls dieser Sitzung gestoßen, die Nummer 16 von ursprünglich 30.«
(Mark Rosemann: Die Wannsee-Konferenz. Wie die NS-Bürokratie den Holocaust organisierte. Propyläen, München/Berlin 2002, S.7)
Rheingold
Berlin/London
(Sonntag, 07.06.1942/Montag, 08.06.1942)
33
Berlin-Kreuzberg, Wrangelstraße | 21.55h
»Bruder? Wie bitte? Bruder?«
»Aber ja, Herr Kommissar.« Was sich wie eines von Claasens Wortspielen anhörte, war in Wahrheit bitterer Ernst. Während sich Sydow auf dem Sofa ausruhte, stand der Marder mit gezückter Waffe am Fenster und ließ die Straße nicht aus den Augen. »Du hast richtig gehört. Jahrgang 1918, sechs Jahre jünger als ich.«
»Warum hast du uns dann nie von ihm…«
»Weil mich Vater zum Schweigen verdonnert hat–darum.«
»Aber wieso denn?«
»Schlecht fürs Geschäft–was weiß denn ich!« Der Marder stieß ein gallenbitteres Lachen aus, steckte seine Mauser in den Gürtel und kramte seine letzte John Player hervor. »Wie dem auch sei: Mathias war so etwas wie unser Familiengespenst. Ständig zugegen, jedoch geflissentlich verschwiegen. Mongoloide. Im Heim, seit ich denken kann.«
»Auch dann, als ihr in England wart?«
»Gerade dann.«
»Und danach?«
»Nachdem sich Vater zu verzocken und anschließend die Kugel zu geben geruhte, sind Mutter und ich, wie du ja weißt, Hals über Kopf nach Deutschland zurück. Mithilfe meines Onkels, der ihr unter die Arme griff, hat sie sich halbwegs über Wasser halten können! Um dem Schlamassel zu entgehen, bin ich 1934 in die SS eingetreten. Noch Fragen?«
»Ja.«
»Und die wären?«
Die Hand auf die Hüfte gepresst, sah Sydow zum Fenster hinüber und fragte: »Warum?«
»Irren ist menschlich–das müsstest du doch am besten wissen.« Claasen rauchte den Zigarillo an und schwieg sich geraume Zeit aus. Dann sagte er: »Du wirst es nicht glauben, Tom–ich war wirklich der Meinung, wir würden wieder bessere Zeiten erleben. Wie so viele andere auch. Wie Millionen andere auch. Dass mich die Realität so schnell einholen würde, hätte ich mir nie im Leben träumen lassen.«
»Und das in deiner Position?«
»Damit hat es nichts zu tun, Tom.«
»Womit dann?«
Ohne sich zu Sydow umzudrehen, holte der Marder tief Luft und murmelte: »Mit Mathias.«
»Deinem Bruder?«
Claasen nickte. »Du hast es erfasst, Kater Tom. Und jetzt willst du sicher wissen, wieso.«
Sydow wandte sich ab und schwieg.
»Schon gut, Tom–wenn es einer erfahren soll, dann du.« Der Marder sog an seinem Zigarillo, gab seinen Beobachtungsposten auf und lehnte sich gegen die Wand. »Wie gesagt–wir sind dann wieder nach Deutschland zurück. Und ich in die SS. Keine Ahnung, wie mein Onkel das hingekriegt hat. Vermutlich Beziehungen. Meinen Bruder, das Familiengespenst, habe ich jedenfalls bewusst verschwiegen. War wohl auch gut so. Was nicht heißen soll, dass ich mich nicht um ihn gekümmert hätte. Das schon. Intensiv sogar. Aber eben inkognito. Beziehungsweise unter falschem Namen.« Der Marder schloss die Augen und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Dass ich mich dafür zu Tode geschämt habe, brauche ich wohl nicht zu sagen.«
Sydow, der sich nicht zum Richter aufschwingen wollte, lehnte sich zurück und schwieg.
»Dann schließlich«, fuhr der Marder geraume Zeit später fort, »etwa zwei, drei Monate nach Mutters Tod, also vor knapp sieben Jahren, hielt ich eines Tages einen Brief in der Hand. Absender: ›Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg‹.« Claasen drückte das Zigarillo aus und ließ sich neben Sydow auf dem Sofa nieder. »Angebliche Todesursache: Herzversagen. Dabei war Mathias gerade einmal 17. Mit anderen Worten, ich ließ die Sache nicht auf sich beruhen. Da ich inzwischen bei der Gestapo gelandet war, saß ich sozusagen an der Quelle.«
»Und das bedeutet?«
»Das bedeutet, dass mein Bruder an den Folgen der gesetzlich verordneten Zwangssterilisation elend zugrunde gegangen ist. Wie, möchte ich aus Pietätsgründen lieber verschweigen. Und das mit 17–kapiert?«
»Verdammte Scheiße, ja!«
»Und jetzt willst du sicher wissen, wie es der MI6 geschafft hat, mich an Land zu ziehen, oder?«
»Keine große Kunst mehr, würde ich sagen.«
»In der Tat.« Der Marder stützte das Kinn auf die Handballen und stierte ins Leere. Es begann zu regnen, und der Wind frischte merklich auf. »Weiß der Teufel, wie der Secret Service überhaupt auf mich gekommen ist!«, murmelte er. »Eins musste man den Jungs jedoch lassen–sie wussten bestens Bescheid. Angefangen hat es jedenfalls beim 36er-Neujahrsempfang, bei dem ich zur Observation eingeteilt war. Das muss man sich vorstellen! Du gibst dich als deutscher Geschäftsmann aus, die Tarnung schlechthin, und dann quatscht dich einer vom MI6 an, der bis ins Detail über dich im Bilde ist. Das haut einen wirklich um.«
»Keinerlei Skrupel?«
Claasen hob das Kinn und sah Sydow forschend an. »Und du?«
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