»Jede Menge. Besonders, als es Rebeccas Familie an den Kragen ging.«
»Soll das etwa heißen, dass sie eine…«
»Das soll heißen, dass sie eine Jugendfreundin von mir ist. Beziehungsweise von meiner Schwester.«
»Verstehe!«, antwortete der Marder süffisant.
»Ich weiß nicht, was es daran herumzumäkeln gibt, Max!«
Der Marder verkniff sich ein neuerliches Lächeln und wechselte rasch das Thema. »Dein Problem!«, warf er mit erhobenen Händen ein. »Um jedoch auf deine Frage zurückzukommen: Meine Skrupel zu überwinden ist mir weiß Gott nicht leichtgefallen. Schließlich ist dies immer noch mein Land. Wenn es auch, wie dir unschwer entgangen sein dürfte, nicht mehr lange dauern wird, bis es von diesen Verbrechern in den Ruin getrieben wird. Sagen wirs mal so, Tom. Es war meine Art, für den Tod meines Bruders Rache zu nehmen. Darüber hinaus natürlich für alles, was diese Menschenschinder auf dem Kerbholz haben. Wie lang des Führers Sündenregister inzwischen ist, brauche ich dir wohl nicht zu sagen. Nehmen wir doch nur einmal diesen Moebius. Dass wir davon erfahren haben, was er sich an der Ostfront so alles geleistet hat, war purer Zufall. Mobile Vergasungsanstalten in Form von Lieferwagen–anfangs konnte ich es einfach nicht glauben, wurde jedoch bald eines Besseren belehrt. Was ich damit sagen will? Dass eine Regierung, die so etwas duldet, unweigerlich dem Untergang geweiht ist! Wenn nicht in diesem, dann spätestens im nächsten oder übernächsten Jahr. Darauf kannst du Gift nehmen, Tom. Und soll ich dir was sagen: Wenn nicht bald jemand etwas dagegen unternimmt, haben es unsere Landsleute auch nicht anders verdient!«
Falls Claasen eine Antwort erwartet hatte, war Sydow nicht bereit, ihm eine zu geben. Über das, was er hätte tun oder vielmehr unterlassen sollen, wollte er jetzt lieber nicht nachdenken. Und schon gar nicht reden. Dem Tod nur knapp entronnen, begann der heutige Tag seinen Tribut zu fordern, und wenn es etwas gab, das ihn aufrecht hielt, dann der Wunsch, Rebecca wohlbehalten wiederzusehen. Alles andere, so wichtig es auch sein mochte, musste warten.
Der Marder erriet seine Gedanken, warf einen Blick auf die Uhr und sagte: »10.05 Uhr. Höchste Zeit, dass wir uns auf die Socken machen!«
»Denkst du, wir werden es schaffen?«
Binnen Sekundenbruchteilen wieder der Alte, schnellte Claasen in die Höhe und machte sich zum Aufbruch bereit. »Ich muss doch sehr bitten, Sydow–«, konnte er seinem Hang zum Komödiantentum einmal mehr nicht widerstehen. »Etwas mehr Stehvermögen stünde Ihnen wahrhaftig besser zu Gesicht!«
34
Hotel Excelsior, Saarlandstraße | 22.50h
»Und was haben Sie jetzt vor?«
Das Ambiente war mondän, die Musik gedämpft, die Ledersessel bequem und der Oberkellner ein Genosse vom NKWD. Natascha lächelte entspannt und sah die Frau, aus der sie immer noch nicht schlau wurde, neugierig an. Heydrichs Giftschrank war geknackt, der Coup ihres Lebens perfekt. Ein Blick hatte genügt, um die Brisanz des Materials überdeutlich zu machen. Die rote Mappe mit den SS-Runen, so dürftig sie auf den ersten Blick auch erscheinen mochte, enthielt Sprengstoff pur. Geheime Dossiers über Hitlers Herkunft, die Affäre mit seiner Nichte, die er buchstäblich in den Selbstmord getrieben hatte. Dazu jede Menge Details über seine nicht gerade lupenreine Vergangenheit. Kein Gerücht, dem Heydrich nicht nachgegangen, keine Schwäche, die nicht hinreichend dokumentiert worden war. Und dann erst dieser Goebbels. Eine wahre Fundgrube. Insbesondere bezüglich seiner Amouren. Hochinteressant aber auch die Details zum Thema Ehekrise, von Gerüchten über eine Liaison seiner Frau mit Hitler gar nicht zu reden. Beweise über Görings Drogensucht, zahllose Korruptionsaffären und Unterschlagungen rundeten den Eindruck der Verkommenheit, den man allein schon bei oberflächlicher Betrachtung gewann, entsprechend ab. Folglich konnte Natascha zufrieden sein. Und das Wichtigste: Das Gesprächsprotokoll über die geheimen deutsch-sowjetischen Friedensverhandlungen vom Frühjahr befanden sich vollständig in ihrer Hand. ›Im Bestreben, einen Schlussstrich unter die seit dem 22.06.1941 offen zutage getretenen Feindseligkeiten zu ziehen…‹–na ja, daraus würde wohl nichts mehr werden. Natascha legte das Protokoll wieder in die Mappe zurück. Genosse Berija würde zufrieden sein, Stalin hoffentlich auch. Ihre Mission war erfüllt, ach was, ein durchschlagender Erfolg! Eine Nacht im Untergrund, höchstens zwei. Dann würde sie sich mithilfe ihres Führungsoffiziers in die Schweiz absetzen.
»Was ich jetzt vorhabe?«, streifte Natascha ihre Zukunftsvisionen ab, während ihr Blick durch die Bar des ›Excelsior‹ schweifte. Ein gesetzter älterer Herr in Begleitung einer auf Lolita getrimmten Prostituierten seilte sich gerade in Richtung Hotelzimmer ab, weshalb sie mit der Frau, deren Namen sie immer noch nicht kannte, alleine war. »Keine Ahnung. Und Sie?«
Anstatt zu antworten, stierte die Frau ins Leere. Natascha schüttelte kaum merklich den Kopf. Aus der soll einer schlau werden, machte sie ihrer Verblüffung in Gedanken Luft. Erst dieses bizarre Aufeinandertreffen auf dem Anhalter Bahnhof. Und dann, um die Verwirrung komplett zu machen, noch die Bereitschaft, auf einen Großteil der Geheimdossiers zu verzichten. Aus freien Stücken! Diese Frau gab einem wirklich ein Rätsel nach dem anderen auf. Naivität, Zufall oder wohldurchdachter Plan? Das war die Frage. In wessen Auftrag sie handelte, die nächste. Von der alles entscheidenden, wie sie in den Besitz des Safeschlüssels gekommen war, überhaupt nicht zu reden. Natascha mimte die Unbeteiligte, atmete nichtsdestoweniger jedoch tief durch. Dass es sich bei der Frau, aus der sie wohl niemals schlau werden würde, um eine Agentin handelte, konnte sie einfach nicht glauben.
Da steckte etwas anderes dahinter. Mehr, als sie möglicherweise ahnte. Was genau, konnte ihr letztendlich gleichgültig sein. Sie, die Speerspitze des NKWD, hatte ihre Schäfchen im Trockenen. Und das war immer noch das Wichtigste.
»Ich weiß es nicht!«, antwortete die Frau nach einer Weile und blätterte die Akte in ihrer Hand zum wiederholten Male durch. Sie trug den Stempel ›Geheime Reichssache‹, wie sämtliche übrigen Dokumente auch, darüber hinaus den Vermerk ›30 Ausfertigungen–1. Ausfertigung‹ und jede Menge Namen und Zahlen, die ihr auf den ersten Blick nichts sagten. Der Grund, weshalb Natascha ihr kaum Beachtung geschenkt und sie der Frau auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin überlassen hatte. Womöglich ein Fehler, aber selbst wenn, war daran kaum noch etwas zu ändern. Gemessen an dem, was sich in Händen dieser mysteriösen Schönheit befand, war sie mehr als nur gut bedient. Fertig.
»Weshalb… weshalb sind Sie dann überhaupt ein solches Risiko eingegangen, wenn…«
»Weil ich mich dazu verpflichtet gefühlt habe!«, erklärte die Frau klipp und klar und trank ihren Kaffee aus. Ihr Blick, von tiefen Schatten getrübt, schweifte dabei ins Leere.
Für Nataschas Begriffe klang das reichlich mysteriös, und um ihre Ratlosigkeit zu überspielen, tat sie das Gleiche und warf einen Blick auf die Uhr.
10.55 Uhr. Höchste Zeit, die Zelte abzubrechen.
»Dann also auf Wiedersehen!«, sagte sie, nahm die Ledermappe an sich und reichte der Frau die Hand. Doch alles, was sie als Antwort bekam, war ein Kopfnicken. Ein Kopfnicken, die Andeutung eines Lächelns und einen dieser Blicke, die ihr auf ewig ein Rätsel bleiben würden.
Allein schon deshalb, weil Natascha bemerkte, dass der Frau die Tränen in die Augen stiegen.
*
In großen Arbeitskolonnen, unter Trennung der Geschlechter, werden die arbeitsfähigen Juden straßenbauend in diese Gebiete geführt, wobei zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird.
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