In der kurzen Zeit, die ihr zur Verfügung gestanden hatte, schien sich Rebecca grundlegend verändert zu haben. So sehr, dass Sydow sie fast nicht wiedererkannte. Sie trug die Haare nicht mehr offen, sondern streng gescheitelt, darüber hinaus Nylonstrümpfe und ein sündhaft teures Kostüm. Die dazu passende Bluse hatte mit Sicherheit ein Vermögen gekostet, die Stöckelschuhe bestimmt auch. »Wie gut, dass du einen so großen Bekanntenkreis hast!«, frotzelte sie, woraufhin Sydow rot wie eine Tomate wurde. »Alles vorhanden–Ausweis inklusive. Sieht ganz danach aus, als sei die Dame in Eile gewesen!«
Claasen, der Sydows Verlegenheit in vollen Zügen genoss, konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »So ist er eben, Fräulein!«, goss er reichlich Öl ins Feuer. »Ein echter Mann von Welt.«
Beim Klang der Sirene, die sich mit hoher Geschwindigkeit näherte, blieb ihm jedoch das Lachen im Halse stecken. »Höchste Zeit, von hier zu verduften!«, trieb er Sydow zur Eile an, nachdem er einen Blick aus dem Fenster geworfen hatte.
»Und wohin?«
»In eine, um es im Fachjargon zu sagen, konspirative Wohnung!«, antwortete der Marder, prüfte seine Mauser P 08 und hievte Sydow in die Höhe. »Wobei Ihnen, gnädiges Fräulein, die Hauptrolle zufallen wird. Das heißt, falls der Edle von Sydow sein Plazet gibt. Der Ehrlichkeit halber sei gesagt, dass es kaum eine andere Möglichkeit gibt. Wenn überhaupt jemand unerkannt an die Schatzkiste rankommen kann, dann Sie. Für dich, mein Bester, meine Wenigkeit mit eingeschlossen, stehen die Chancen bei null. Oder darunter!«
Sydow atmete tief durch und nickte. »Dann viel Glück!«, flüsterte er Rebecca zu, während er den Schlüssel für das Schließfach in ihre Hand gleiten ließ. »Und pass auf dich auf.«
»Keine Sorge!«, beruhigte ihn Rebecca, ein Lächeln im Gesicht, das nur schwer zu deuten war. »Du weißt doch, für mich gibt es nichts mehr zu verlieren. Höchstens zu gewinnen.«
»Dann wären wir uns ja einig!«, vollendete der Marder und versetzte Sydow, der sich nicht von Rebecca losreißen konnte, einen Rippenstoß.
»Treffpunkt?«, war alles, was Sydow über die Lippen brachte.
»Kompliment, du denkst aber auch an alles!« Der Marder sah auf die Uhr, überlegte kurz und sagte: »Von jetzt an gerechnet in circa dreieinhalb Stunden.«
»Also um Mitternacht.«
»Genau, Fräulein.«
»Und wo?«, fragte Sydow, dem die Aktion immer noch nicht geheuer war.
»Als Berliner, nehme ich an, dürften dir die Torhäuser auf der Ost-West-Achse nicht unbekannt sein.«
Sydow sah den Marder entgeistert an. »Sag mal, Max–«, brach es aus ihm hervor, »Hast du eigentlich noch alle Tassen im…?«
»Ich denke schon. Da wir quasi auf dem Sprung sind, nur so viel: Vorausgesetzt, wir sind noch am Leben, werden wir dort einen meiner Kontaktleute treffen. Er wird uns raushauen, worauf du dich verlassen kannst!«
»Aha, Mister Geheimnisvoll. Und um wen handelt es sich, wenn die Frage gestattet ist?«
Obwohl die Sirene bedrohlich nahe war, hatte Claasen seinen Humor nicht gänzlich verloren:
»Beherrschen Sie sich, von Sydow!«, unterbrach er ihn im Eton-Akzent. »Wenn die Zeit reif ist, werden Sie Ihre Antwort erhalten!« Um unmittelbar darauf hinzuzufügen: »Und jetzt raus hier, Don Juan–bevor sie uns beide an die Wand stellen!«
Ohne Sydow zu beachten, schlängelte sich der Marder an ihm vorbei und dirigierte Rebecca zur Tür. Sydow folgte ihnen, drehte sich auf der Schwelle jedoch noch einmal um.
Ein Tag der Abschiede, dachte er, während er den Blick über sein Grammofon, die Plattensammlung und das übliche Durcheinander in seiner Junggesellenbude schweifen ließ. Zuerst Behrens, dann Veronika und dann, am schmerzlichsten von den dreien, Klinke. Sein Leben, so viel stand fest, würde nie mehr so sein wie früher.
Aber nur dann, falls er den heutigen Tag überstand.
»Kommst du, Tom?«, drang Rebeccas Stimme an sein Ohr, und obwohl er es selbst kaum glauben konnte, verflüchtigte sich sein Pessimismus im Nu.
Kein Zweifel, er, Tom Sydow, würde ihn überstehen.
Egal, wer ihm dabei im Wege stand.
31
West Malling Airfield | 19.28 h OZ
»Runway clear–taking off« , antwortete McLeod, fuhr die beiden Rolls-Royce-Motoren hoch und startete durch. Endlich ging es los. Die Warterei hatte ein Ende.
Kaum hatte seine ›Mossie‹, ein umgebauter Nachtjäger vom Typ Mosquito NF Mk. XIX, die Startgeschwindigkeit erreicht, hob Wing Commander Jason McLeod auch schon ab. Vor ihm zweieinhalb Stunden Flugzeit, ein Großteil davon über feindlichem Gebiet. Nach landläufiger Auffassung kein Zuckerschlecken, für ihn dagegen ein Klacks. Für diese Kaltblütigkeit, die nicht, wie bei so vielen, nur vorgetäuscht war, war er allgemein bekannt. Letztendlich einer der Gründe, weshalb die Wahl auf ihn gefallen war.
Einer der Gründe, beileibe jedoch nicht der einzige. Zum einen war da die Sache mit Claasen. Wenn er ehrlich war, hatte er immer noch daran zu knabbern. Streng geheim, aha. Nachhaken zwecklos. Bei Menzies sowieso. Das konnte einen wirklich wahnsinnig machen. Darüber hinaus war er natürlich der Beste, den Menzies hatte kriegen können. McLeod räkelte sich genüsslich in seinem Sitz. Bescheidenheit war noch nie sein Ding gewesen.
Höhe: 2.000 Meter. Öldruck: normal. Tank: zum Bersten voll. McLeod warf einen Blick aus der Pilotenkanzel. Von feindlichen Flugzeugen keine Spur. Tief unter ihm breitete sich bereits die Dunkelheit aus. Davon durfte man sich freilich nicht täuschen lassen. Hatte er erst die französische Küste erreicht, würde es ziemlich ungemütlich werden. Dafür würde die deutsche Luftabwehr schon sorgen.
Höhe: 2.500 Meter. McLeod sah auf die Uhr. Noch 25 Minuten, und er würde sich dem Bomberverband anschließen, der vom Treffpunkt aus in Richtung Reichshauptstadt flog. Dann aber, in gut zwei Stunden, wäre er auf sich allein gestellt. Der zweifellos schwierigste Teil des Unternehmens. Eine Mission, für die es schlicht und ergreifend keinen Präzedenzfall gab.
3.000. Noch gut 1.000 Meter, und er hatte die Flughöhe erreicht. McLeods Griff um die Steuerung lockerte sich. Zeit, sich ein wenig zu entspannen. Die beiden Rolls-Royce-Motoren, 3.270 PS stark, funktionierten perfekt. Für die Radarpeilung galt das Gleiche. Auf Dauer konnte einem der Ton, den er via Kopfhörer empfing, zwar gehörig auf die Nerven gehen. Er hörte sich wie eine Oboe an, und er hasste klassische Musik. Aber nur so würde er den Bomberverband überhaupt ausfindig machen können. Gesetzt den Fall, der Gegner knackte seine Frequenz, konnte er die Operation ›Rheingold‹ nämlich glatt vergessen. Dann würde er weiß Gott wo landen, nur nicht in Berlin.
Wenn überhaupt.
»It’s a long way to Tipperary, it’s a long way to go!« Ein Lied auf den Lippen, das ihn an die Collegezeit erinnerte, überflog McLeod die französische Küste. Fast automatisch kehrte er dabei in Gedanken zu Max Claasen zurück. Claasen, Sydow und seine Wenigkeit–ein geradezu unschlagbares Team. Der Wing Commander lächelte stillvergnügt in sich hinein. Da war kein Auge trocken geblieben, kein Spaß zu derb gewesen, als dass man vor ihm zurückgeschreckt wäre. Wie hatte sie der Internatsleiter doch gleich genannt? Genau–›die drei Musketiere‹! Wenn ein Spitzname je berechtigt gewesen war, dann dieser.
Keine zehn Meilen von Calais entfernt, schraubte McLeod seine Thermoskanne auf und genehmigte sich einen Schluck Tee. Die Nacht war wolkenlos, von Turbulenzen in Form feindlicher Flakbatterien keine Spur. Folglich war seine Rechnung aufgegangen. Für eine einzige Mosquito, noch dazu eine mit Höchstgeschwindigkeit, war dem Gegner die Munition offenbar zu schade. Da man ihm in puncto Schnelligkeit ohnehin nichts anhaben konnte, war darüber hinaus kein einziger Nachtjäger zu sehen. McLeod grinste und trommelte vergnügt auf dem Armaturenbrett herum.
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