Für Selbstmitleid war zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedoch kein Platz. Er war ganz nah dran. Das merkte er genau. Wenn man wie er fast zehn Jahre bei der Kripo war, entwickelte man ein Gespür dafür. Zugegeben, von seiner Stippvisite in diesem Nobelpuff hatte er sich mehr erwartet. Wesentlich mehr. Hinzu kam, dass irgendetwas mit dieser äußerst attraktiven Frau mit Sicherheit nicht stimmte. Klinke hätte ihn jetzt bestimmt für bekloppt erklärt. Aber sie hatte etwas an sich gehabt. Etwas, das nur schwer in Worte zu fassen war. Für jemanden, der in die Enge getrieben wurde, hatte sie nämlich erstaunlich gelassen reagiert. Ganz anders, als man es normalerweise in einer derartigen Situation erwarten würde. Keine Frage, diese Frau war es gewohnt, mit ihren Gefühlen hinterm Berg zu halten. Zwischen ihr und den Nutten, mit denen er es bei seinen bisherigen Ermittlungen zu tun gehabt hatte, lagen jedenfalls Welten. Selbst wenn man berücksichtigte, dass in einem Bordell der SS das Beste gerade einmal gut genug zu sein schien.
Derlei Spekulationen, so reizvoll sie auch waren, brachten ihn jedoch nicht weiter. Sydow war schweißgebadet, seine Stirn glühend heiß, und er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Je näher er seiner Wohnung kam, umso mehr schwindelte ihn, umso stärker die Zweifel, die sich in ihm regten. Jetzt nur nicht schlappmachen, hämmerte er sich ein, obwohl ihn der Gedanke beschlich, dass genau das innerhalb der nächsten Minuten passieren würde.
Nur noch diese eine Ecke, dann war es geschafft.
Kaum war sein Aufatmen verebbt, meldete sich sein Instinkt, in diesem Falle Gespür für Gefahr. Sydow zog seine Waffe und pirschte sich mit dem Rücken zur Wand an die Häuserecke heran. Glück für ihn, dass es dunkel wurde. So hatte er wenigstens eine gewisse Chance.
Die Limousine, die gerade vorfuhr, war ihm bestens bekannt. Der obligatorische Mercedes Benz230, also doch. Er hätte es sich denken können. Wie nicht anders zu erwarten, waren sie ihm dicht auf den Fersen. Etwas zu dicht zwar, da ihm jetzt keine Zeit mehr blieb, sich droben in seiner Wohnung mit Munition, Mullbinden und Tabletten zu versorgen, aber was machte das schon! Sydows Griff um seine Walther PPK verstärkte sich, genauso wie die Versuchung, die Sache jetzt und hier auszufechten. Dass er ihr nicht erlag, wunderte ihn, aber als sein Blick auf sein blutdurchtränktes Hemd fiel, das durch sein Jackett nur notdürftig verdeckt wurde, besann er sich und zog sich in die nächstbeste Toreinfahrt zurück.
Sämtliche Gebäude, die meisten aus der Zeit vor der Jahrhundertwende, waren durch einen gemeinsamen Hinterhof miteinander verbunden. So auch das, in dem er wohnte. Sein Glück. Während er über den Hof wankte, flogen die Ereignisse des Tages noch einmal an ihm vorbei. Sydow stöhnte innerlich auf. Klinke tot, Helfrich untergetaucht, Kruppke exekutiert, Böhm auf der Flucht und er, Sydow, so gut wie schachmatt–von den Opfern des Bombenanschlags gar nicht zu reden. Es war viel passiert an diesem Tag. Mehr, als er ertragen konnte.
Nichts wie hoch in seine Wohnung. Und dann würde er weitersehen. Trotz der Tatsache, dass sein Körper nach wie vor funktionierte, wurde Sydow von lähmender Müdigkeit erfasst. Kaum imstande, klar zu denken, schleppte er sich über den Hof und hielt auf die Hintertür seines Hauses zu. Dass das, was er da tat, Wahnsinn war, wusste er, aber es kümmerte ihn nicht mehr. Ebenso wenig, dass irgendein Fahnder ihn bereits im Visier haben könnte. Der Drang, sich in seiner Wohnung zu verschanzen, war übermächtig geworden, vergleichbar mit dem eines verwundeten Raubtiers, das sich in seiner Höhle verkriecht.
Als die Hoftür hinter ihm ins Schloss fiel, atmete Sydow hörbar auf. Die erste Etappe war geschafft, die nächste jedoch viel schwieriger. Die Blutung war nicht mehr zu stoppen, und Sydow klammerte sich verzweifelt am Treppengeländer fest. Auf einmal, so schien es, war der Weg in den dritten Stock zu einem unüberwindbaren Hindernis geworden, und er ertappte sich bei der Vorstellung, wie vorteilhaft eine Festnahme in diesem Moment doch wäre.
Zu seiner Überraschung trat dieser Fall jedoch nicht ein. Trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, dass jemand in der Nähe war. Wie er darauf kam, war ihm nicht wirklich klar, denn im Flur war es stockdunkel. Sydow wischte sich den Schweiß von der Stirn, suchte Halt am Geländer und arbeitete sich Schritt für Schritt, Stufe um Stufe voran. Wenn ihm jetzt, noch dazu in diesem Zustand, jemand in die Quere käme, wäre er erledigt, selbst wenn es einer der Hausbewohner war. Doch es war und blieb still. Sydow presste einen unterdrückten Fluch hervor. Alles wirkte so unwirklich, nachgerade bizarr, und trotz seiner blutverklebten Hände, die ihren Abdruck auf dem Geländer hinterließen, kam er sich wie in einem Albtraum vor.
Als er vor seiner Tür stand, konnte er es selbst kaum glauben. Doch dann, als der Schlüssel bereits im Schloss steckte, war da wieder dieses Gefühl von vorhin, merkwürdigerweise jedoch ohne eine Spur von Beklemmung in ihm zu erzeugen. Eines jedoch konnte er mit Sicherheit sagen: Er war nicht allein.
Sydow sollte recht behalten, wenn auch auf eine Weise, die er sich nie und nimmer hätte vorstellen können.
Im Begriff, die Tür aufzuschließen, während er die linke Hand auf die Wunde presste, hörte er plötzlich ein Geräusch, das vom nächsthöheren Treppenabsatz kam. Ein Knarren, das, wie er reflexartig erkannte, auf die Anwesenheit einer weiteren Person schließen ließ. Da es stockdunkel war, er aber nicht einmal mehr die Kraft besaß, zur Waffe zu greifen, stützte sich Sydow gegen den Türrahmen, drückte auf den Lichtschalter und drehte sich langsam nach rechts.
Zunächst einmal war er überrascht. Weniger aufgrund der Tatsache, dass die Beleuchtung auf dem Treppenabsatz nicht funktionierte, sondern deshalb, weil es eine Frau war, die allem Anschein nach auf ihn gewartet hatte. Zuerst dachte er, es sei Evelyn, mit der er sich vorgestern verkracht hatte, oder vielleicht Veronika oder wer ihm sonst noch alles über den Weg gelaufen war.
Aber dem war nicht so.
Als die mittelgroße, schlanke und sichtlich mitgenommene Frau aus dem Halbdunkel hervortrat, hielt Sydow den Atem an. Und war sprachlos.
Jetzt fängst du langsam an durchzudrehen, meldete sich seine innere Stimme zu Wort. Er war völlig durcheinander, so perplex wie schon lange nicht mehr. Dementsprechend lange, für seine Begriffe eine Ewigkeit, blieb er einfach stehen, unfähig, sich von der Stelle zu rühren.
Er kannte diese Frau, wenngleich er sie völlig anders in Erinnerung hatte. Vier Jahre waren eben eine lange Zeit. Ein Zeitraum, in dem sich ein Mensch verändern konnte. Angesichts dessen, was sie hinter sich hatte, auch kein Wunder. Obwohl er sich dafür schämte, blieb Sydows Blick wie gebannt auf ihr haften. Sanft gewelltes, schulterlanges Haar, dunkle Augen, geschwungene Brauen, dazu ein wehmütiges Lächeln–ein Gesicht wie dieses vergaß man einfach nicht. Selbst wenn, wie ihm schmerzlich bewusst wurde, seit seinem letzten Zusammentreffen mit ihr viel Zeit vergangen war.
»Hallo, Tom!«, tat sie sich offensichtlich genauso schwer wie er. »Wie geht es dir?« Aber dann, auf der vorletzten Stufe, wurde sie plötzlich leichenblass und schlug die Hand vor den Mund.
»Nicht der Rede wert!«, gab sich Sydow betont lässig, als ihr Blick auf die Schusswunde fiel. »Und du, Rebecca?«, presste er wie ein schüchterner Pennäler hervor. »Wie geht es dir?«
Eine Frage, die an Unbeholfenheit nicht zu überbieten war. Sydow hätte sich dafür ohrfeigen können, wollte seinen Schnitzer wiedergutmachen. Dazu sollte es jedoch nicht kommen. Auch ohne umständliche Erklärungen hatte Rebecca die Situation sofort erfasst, schloss die Tür auf und bugsierte ihn in die Wohnung hinein. Zu schwach, um von irgendwelchem Nutzen zu sein, ließ Sydow es einfach geschehen.
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