»Und dieser Helfrich? Was ist mit dem?«, zerrte ihn Klinkes Frage wieder in die Gegenwart zurück. »Denkst du, man kann ihm ohne Weiteres trauen?«
»Unbedingt.«
»Will heißen, aus Angst vor weiteren Folterungen, von denen er laut Obduktionsbericht deines Pathologen-Kumpels jede Menge über sich ergehen lassen musste, bringt sich Möllendorf schließlich um. Mit oder ohne fremde Hilfe, wäre noch zu klären. Auf jeden Fall, so steht zu vermuten, weiht er niemanden sonst in sein süßes Geheimnis ein.«
»Und sein Abstecher in den Puff? Bekanntlich sind da schon ganz andere Kaliber schwach geworden.«
Im Begriff, etwas zu erwidern, geriet Klinke plötzlich ins Stocken: »Angenommen, Möllendorf war wirklich so dämlich, wie es den Anschein hat.«
»War er.«
»Komm schon Tom, du glaubst doch nicht etwa im Ernst, dass er sich die Mühe gemacht hat, Heydrichs Dossier in einem Schließfach verschwinden zu lassen, um es anschließend brühwarm auszuplaudern?«
»Glauben heißt bekanntlich nicht wissen.«
»Auf gut Deutsch: Dir steht der Sinn nach erotischen Eskapaden!«, spöttelte Klinke und warf Sydow das Streichholzbriefchen zu. »Ein Glück, dass wir nicht lange zu suchen brauchen!«
»Du hast es erfasst, Dicker!«, entgegnete Sydow, steckte es ein und tätschelte die Wange seines Assistenten. »Oder hast du vielleicht eine bessere Idee?«
»Essen gehen.«
»Erst die Arbeit, dann das Vergnügen!«, erwiderte Sydow und grinste breit. »Dank eingehender Ermittlungen eines gewissen Erich Kalinke sind wir zwar in den Besitz des Schlüssels zum Hort des Bösen gelangt, das wars dann aber auch schon.«
»Im Klartext: Eine Stippvisite in diesem ›Salon Kitty‹ ist die einzige Chance, die wir noch haben.«
»Messerscharf gefolgert, Herr Kalinke.«
»Kriminalassistent, wenn ich bitten darf!«
»Wenn schon, dann aber auf Lebenszeit!«, witzelte Sydow und wandte sich instinktiv um. »Wie spät ist es eigentlich?«
»Hahaha!«, gab sich Klinke gelassen, schnitt eine Grimasse und sah beiläufig auf die Uhr. »5.45Uhr!«, antwortete er mit verständnislosem Blick. »Wieso willst du das so genau wissen?«
Doch Sydow, auf einmal aschfahl, hörte nur noch mit einem Ohr hin, ging in Deckung und zog seine Waffe: »Weil jetzt zurückgeschossen wird!« [1] Anspielung auf Hitler-Rede bei Kriegsbeginn: ›Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen!
, stieß er hervor und bedeutete Klinke, es ihm gleichzutun.
Klinke verstand, doch seine Reaktion kam um Sekundenbruchteile zu spät. Im Visier eines der beiden Gestapo-Fahnder, die wie aus dem Nichts aufgetaucht waren, blieb ihm keine Zeit mehr, die Waffe zu ziehen. Die Kugeln kamen in rascher Folge, jede davon ein Treffer, durchsiebten den Körper des Zwei-Zentner-Mannes, als sei er aus Papier. Doch so leicht ließ sich ein Erich Kalinke nicht unterkriegen. Selbst dann, als das Magazin seines Kontrahenten leer war, hielt er sich immer noch aufrecht, die riesigen Pranken auf die Brust gepresst.
Dann brach er zusammen, ein Lächeln im Gesicht. »Auf Lebenszeit!«, hauchte er, während ihm ein Sammelsurium von Bildern, Stimmen und Geräuschen die Sinne zu verwirren begann.
Davon, dass Tom Sydow, der einzige Mann, zu dem er je aufgeblickt hatte, die beiden Agenten der Reihe nach liquidierte, bekam Klinke so gut wie nichts mehr mit. Der Aufschrei, der durch die Kehlen der Passanten drang, das aufgeregte Rufen seines Kollegen, ja selbst das Bellen der Handfeuerwaffen. All das berührte ihn nicht mehr. Das Einzige, was ihn noch am Leben hielt, war der verzweifelte Aufschrei Sydows, als er sich über seinen von Kugeln durchsiebten Körper beugte. Aber auch das rettete ihn nicht, und ein paar Sekunden später war Erich Kalinke tot.
29
Berlin-Wilmersdorf, Giesebrechtstraße 11 | 19.05h
»Wusste ichs doch, dass du ein Bulle bist!« Nach außen hin gewohnt souverän, um nicht zu sagen kalt wie ein Fisch, knöpfte sich Natascha alias Magda Jannowitz die Bluse zu, ordnete ihr Haar und begab sich auf die Suche nach ihrem Schminkkoffer, um frisches Rouge aufzutragen. Das hatte sie auch bitter nötig, war die hochdekorierte Sowjet-Agentin doch so kalt erwischt worden wie noch nie.
Die Suche dauerte länger als erwartet, und was Natascha am meisten irritierte, war die Tatsache, dass ihr jegliche Kaltschnäuzigkeit fehlte. Bis zu dem Zeitpunkt, als sie dieser Bulle angequatscht hatte, war noch alles in Ordnung gewesen, eigentlich wie immer. Die Kundschaft, reichlich Prominenz, Parteibonzen und Mitglieder des Diplomatischen Korps, war die gleiche. Das Ambiente, ein Edelbordell, das höchsten Ansprüchen genügte, war das gleiche. Und die allabendliche Routine, die Suche nach dem sprichwörtlichen dicken Fisch, der den Genossen vom NKWD von Nutzen sein würde, war die gleiche. Nur sie, Stalins Speerspitze, wie Berija sie zu titulieren pflegte, war nicht mehr die Gleiche. Und das, nicht zuletzt aber auch der durchdringende Blick dieses Bullen, war das eigentlich Bestürzende für sie.
Auf die Idee, Alarm zu schlagen, wäre sie trotzdem nicht gekommen. Dafür war die Angelegenheit viel zu heiß. Und sie, die sie Männer gewöhnlich kalt ließen, viel zu konfus. Um Zeit zu gewinnen, zog Natascha ihre Schönheitskorrektur absichtlich in die Länge, wobei es allerdings nichts zu beschönigen gab. Sie war einfach der Typ, auf den die Männer flogen, der brünette Vamp, der die Kerle nach Belieben um den Finger wickelte. Bis dieser Bulle aufgetaucht war, der so aussah, als hätte man ihn gerade aus der Gosse gezogen und ihr das Bild von Möllendorf unter die Nase gerieben hatte. Das hatte sie buchstäblich umgehauen, und wenn sie diesen Typen richtig einschätzte, war ihm das nicht entgangen.
»Wieso gerade ich?«, fragte Natascha, darauf aus, möglichst gelassen zu wirken. Ein Blick auf den Bullen, und ihr war klar, dass er sich davon nicht täuschen ließ. Natascha hätte sich ohrfeigen können wegen ihrer Unbeholfenheit. Hinzu kam noch etwas anderes. Etwas, das sie nie und nimmer für möglich gehalten hätte.
Dieser Typ gefiel ihr. Und das sogar ziemlich gut. Er hatte einfach das gewisse Etwas. Blaue Augen, rotblondes Haar und Grübchen. Ein Mann mit Humor, das sah man ihm an. Aber auch einer, mit dem nicht zu spaßen war.
»Purer Instinkt!«, antwortete der Mann, der sich ihr als Hauptkommissar Sydow vorgestellt hatte. Es war die Art, wie er es sagte, die Nataschas romantische Anwandlungen auf der Stelle zunichtemachte. Seine Stimme hatte etwas Unberechenbares an sich. Etwas Rücksichtsloses. Der Eindruck, der sich ihr aufdrängte, wirkte fast absurd, aber je länger sie diesen Sydow in Augenschein nahm, umso mehr gewann sie den Eindruck, der Mann habe mit dem Leben abgeschlossen. Ein Mann, der auf nichts und niemanden mehr Rücksicht zu nehmen gewillt war.
Folglich ein Mann, vor dem man sich in Acht nehmen musste. Die geringste Blöße, und sie konnte ihre Mission abschreiben. »Also: Wann genau haben Sie den Mann auf dem Bild hier gesehen?«
»Überhaupt nicht. Wir sind hier schließlich kein Kindergarten.«
Der Bulle lächelte, auf eine Art, die ihr den kalten Schweiß unter den Achseln hervortrieb. Die Schürfwunde in seinem Gesicht, allem Anschein nach frisch, war dazu angetan, ihre Anspannung noch zu erhöhen. ›Crew 22‹, ließ sich der Kommissar das Heft jedoch nicht aus der Hand nehmen. »Was, Gnädigste, glauben Sie, hat das wohl zu bedeuten? Doch wohl nur, dass das Bild bereits 20 Jahre alt ist. Auf ein Neues. Wann und bei welcher Gelegenheit haben Sie den Mann oben rechts schon einmal gesehen? Um Missverständnissen von vornherein vorzubeugen–es ist der da!«
Nichts einfacher, so zu tun, als sei ihr Möllendorf noch nie über den Weg gelaufen, aber aus einem unbestimmbaren, kaum zu erklärenden Grund entschied sich Natascha für das Gegenteil: »Vergangenen Dienstag!«, lenkte sie ein und setzte sich neben dem Kommissar aufs Bett, die Beine eng aneinandergepresst.
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