Als die allgemeine Aufmerksamkeit wieder verebbte, kramte Veronika ihren Taschenspiegel hervor, begutachtete ihr Profil und steckte sich eine Ernte in den Mund. Es war das Zeichen, auf das Sydow gewartet hatte.
»Feuer, gnädige Frau?«
Veronika nickte, inhalierte und blies Sydow den Rauch ins Gesicht. »Na, Herzensbrecher!«, witzelte sie mit aufreizendem Augenaufschlag. »Was steht zu Diensten?«
Sydow und der Wirt wechselten einen raschen Blick. Letzterer grinste über beide Backen und schaltete den Phonographen ein.
»Zunächst danke, dass du überhaupt…«
»Deine Willy-Fritsch-Nummer kannst du dir sparen!«, funkelte ihn Veronika an, verstaute ihren Spiegel und rückte näher. Der Phonograph plärrte ›Lili Marleen‹, ein Umstand, der sie zusätzlich in Rage versetzte.
»Reine Vorsichtsmaßnahme!«, versuchte Sydow sie zu beschwichtigen. »Aber um zum Thema zu kommen, du hattest recht, ich stecke in der Klemme.«
»Ist inzwischen auch zu mir durchgedrungen!«, antwortete Veronika. »Machs also kurz.« Dann fügte sie hinzu: »Und mach, dass du fortkommst, bevor sie dich hopsnehmen und du auf Nimmerwiedersehen in der Prinz-Albrecht-Straße verschwindest. Ich hoffe, du weißt, was ich für dich alten Scheißkerl riskiere!«
»Weiß ich.«
»Dann also raus mit der Sprache!«, flüsterte Veronika und sah demonstrativ geradeaus. Der Wirt, immer noch im Glauben, hier bahne sich etwas an, zog sich an den äußersten Rand des Tresens zurück und blickte mit demonstrativem Gleichmut in den Biergarten hinaus, der im Schatten des weitverzweigten Namenspatrons seiner Eckkneipe lag. »Oder lass mich raten! Es hat was mit einem Herrn namens ›von M‹ zu tun.«
»Stimmt.«
»Weißt du überhaupt, in welches Wespennest du da gestochen hast?«
»Klar.«
Veronika trank einen Schluck, betupfte die Lippen mit dem Handrücken und würdigte Sydow keines Blickes. Obwohl sie der Ufa alle Ehre gemacht hätte, waren ihre Nerven zum Zerreißen gespannt, die mit reichlich Tusche versehenen Wimpern in ständiger Bewegung. »Um es kurz zu machen, Traum meiner schlaflosen Nächte! Ich weiß bis ins Detail Bescheid.«
»Du weißt was?«
»Du hast richtig gehört. Um dem Herrn Kriminalhauptkommissar–besser gesagt, steckbrieflich gesuchten Vaterlandsverräter–ein wenig auf die Sprünge zu helfen. In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch vergangener Woche hatte ich in der Zentrale Dienst.« Veronika wandte den Blick zur Seite und sah Sydow prüfend an. »Überrascht?«
»Wenn ich ehrlich bin–ja.«
»Hört sich aber nicht unbedingt danach an.«
»Komm schon, Veronika…«
»Ich weiß, was du sagen willst: ›Tu es um der alten Zeiten willen‹.« Die 25-jährige Blondine geriet ins Stocken, fuhr mit dem Handballen über den Augenwinkel und seufzte: »Meinetwegen.« Und kurz darauf: »Also, wie gesagt, war ich letzte Woche für die Spätschicht eingeteilt. Verdammt langweilige Angelegenheit. Aber dann, wenige Minuten vor 21 Uhr, kam ordentlich Leben in die Bude.«
»Wieso?«
»Weißt du, wenn mir langweilig ist, höre ich hin und wieder ein bisschen mit. Ja, ja, weiß schon, was du sagen willst! Strengstens verboten, kannst von Glück sagen, dass keiner was mitgekriegt hat! Bin auch kuriert, darauf gebe ich dir Brief und Siegel!« Veronika drückte ihre Zigarette aus, schob ihre Weiße beiseite und bestellte sich ein Glas Berliner Kindl. »Prost!«, rief sie in Richtung eines Spiegels mit der Aufschrift ›Vereinsbrauerei Rixdorf‹ aus. »Auf dich, altes Haus, auf dass du möglichst lange unter den Lebenden weilst!«
»Und dann?«
»Dann, Schmusebär, kam der interessante Teil. Und zwar in Gestalt eines Ferngesprächs. Kurz vor 21 Uhr, genauer gesagt 20.55 Uhr. Direktverbindung. Hab mich aber trotzdem eingeklinkt.« Die Telefonistin im RSHA sah sich instinktiv um. Das Interesse für das, was sie mit Sydow zu besprechen hatte, war jedoch gleich null. »Und soll ich dir was sagen? Da war noch jemand in der Leitung.«
»Wie bitte?« Sydow wurde aschfahl und warf einen Blick in die Runde. »Bist du dir da auch ganz sicher?«
»Wenn du wie ich drei Jahre in der Branche tätig bist, fällt dir so was auf Anhieb auf. Schon mal was von Nebengeräuschen gehört? Egal, da lungert also wer in der Leitung rum. Nix wie raus da, denk ich mir. Aber dann wars bereits zu spät. Ging nicht mehr, war vor Schreck wie erstarrt.«
Sydow, dem allmählich dämmerte, auf welche Pointe sich Veronikas Geständnis zubewegte, hielt den Atem an. Die Frage, die ihm auf der Zunge lag, behielt er taktvollerweise für sich.
Er bekam die Antwort auch so. »Das ist doch der Heydrich, denk ich und krieg das große Zittern.«
»Heydrich? Bist du dir da auch ganz…«
»Gehts noch ein bisschen lauter? Klar bin ich das. Mitgekriegt hab ich aber trotzdem nicht viel. Außer dem Codewort. Hat sich verdammt noch mal nach Absprache angehört.«
»Ein Code?«
»›Walhalla auslösen!‹, hat der Heydrich gesagt. Gleich zwei Mal. Damit es der Möllendorf nur ja…«
»Was hast du da eben gesagt?«
»... kapiert. Sag mal, Katerchen, wirst du langsam taub, oder was?«
»Schon möglich. War das alles?«
»So gut wie. Der Möllendorf konnte es zunächst gar nicht fassen. Da ist der Heydrich dann richtig sauer geworden. Von wegen seiner schwangeren Frau und so. Richtig hektisch. Und dann hat er einfach aufgelegt.«
»Und woher weißt du so genau, dass es Möllendorf war?«
»Wollte mir mal an die Wäsche.« Veronika hielt inne und sprach mit sarkastischem Unterton: »So wie das bei euch Männern hin und wieder der Fall zu sein pflegt.«
Der Wink mit dem Zaunpfahl wäre nicht nötig gewesen. Sydow hatte es buchstäblich die Sprache verschlagen. »Und was jetzt?«, fragte er, mehr an die eigene Adresse als an die seiner Exfreundin gerichtet.
»Jetzt, mein Schatz, mach ich mich dünne!«, antwortete Veronika Vehrenkamp, packte ihre Siebensachen und machte Anstalten zu gehen. »Ich nehme an, das da geht auf dich!«, lächelte sie mit einem Blick auf die Getränke, wurde im nächsten Moment jedoch todernst. »Machs gut, Tom!«, flüsterte sie Sydow ins Ohr, drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange und strich ihm übers Haar. »Und pass auf dich auf!«
»Und du auf dich!«, murmelte Sydow und winkte Veronika hinterher, bevor sie in Richtung Nikolaikirche entschwand. Dann trank er sein Pils in einem Zug leer. »Ein halbes Dutzend ist genug!«, fügte er hinzu, ohne Klinke, der im selben Moment zur Tür hereinstürmte, die gebührende Aufmerksamkeit zu widmen.
»Allzeit bereit für ein Tête-à-Tête–so was lob ich mir!«, keuchte sein schwergewichtiger Assistent, während er sich nach potenziellen Spitzeln umsah. Er war völlig außer Puste, die Spuren der vergangenen Stunden, die sich tief in seinem Gesicht eingegraben hatten, nicht zu übersehen.
»Spät kommt Ihr, doch Ihr kommt! Der weite Weg entschuldigt Euer Säumen.«
»Schiller!«, blaffte Klinke zurück. »Falls du es noch nicht weißt: Gemessen an der Scheiße, in der wir stecken, sind jegliche Witze…!«
»Scheint so, als hättest du recht!«, fiel ihm Sydow ins Wort, da einige der Anwesenden bereits die Köpfe hoben. Dann stand er auf, zahlte und bugsierte Klinke zur Tür. »Parole?«
»Volle Deckung!«, erwiderte Klinke und folgte ihm auf dem Fuß.
*
»Und was jetzt?« Das Kinn auf die Handballen gestützt, saß Klinke auf der Bank und stierte missmutig vor sich hin.
»Gute Frage!«, kehrte Sydow den Abgebrühten heraus. Dass er nur so tat, hätte ein Klinke in Normalform sicherlich gemerkt. So aber wirkte die Zurschaustellung demonstrativer Gelassenheit wie eine Provokation auf ihn.
»Ist das alles, was du zu dem Schlamassel zu sagen hast?«
»Vorschlag: Warum nicht alles noch einmal in Ruhe überdenken?«, war Sydow bemüht, seinem Partner den Wind aus den Segeln zu nehmen. Dennoch ließ er die Umgebung keinen Moment aus den Augen. Außer den üblichen Spaziergängern, Ausflüglern und Kneipenbesuchern, die es zum Flanieren ins Nikolaiviertel trieb, war jedoch nichts Verdächtiges zu sehen.
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