Doch bevor er sich weiter Gedanken machte, musste er zusehen, die Spuren dieser Barbarei zu tilgen. Das war ganz einfach seine Pflicht, Gestapo hin oder her. Sollte ihm Moebius doch eine Kugel durch den Kopf jagen, wenn ihm der Sinn danach stand. Wer immer es war, dessen Ruhe hier gestört worden war: Er würde dafür Sorge tragen, diesen Frevel wieder wiedergutzumachen. Und wenn es das Letzte war, was er in diesem Leben tat.
Die Zeit verging, und Sydow arbeitete wie in Trance. Wie er auf den Gedanken kam, war im Grunde zweitrangig, aber als er sich verzweifelt abrackerte, den mit einem Hakenkreuz beschmierten Grabstein in die Höhe zu wuchten, wandten sich seine Gedanken fast automatisch der Vergangenheit zu. Und mit ihr der Frage, warum er nicht schon frühzeitig die Konsequenzen aus diesem Wahnsinn gezogen hatte. Keuchend vor Anstrengung hielt Sydow einen Moment inne und fuhr sich durch das schweißverklebte Haar. Gezogen hatte er sie, na klar, aber viel zu spät. Erst dann, als der Bruch mit seiner Familie unvermeidlich geworden war.
Was wohl aus Rebecca, ihrer Mutter und ihrem Vater, diesem begnadeten Klarinettisten, geworden war? Er hatte sie aus den Augen verloren, so die Entschuldigung, die im Grunde keine war. Er hätte sich um sie kümmern können, ja sogar müssen. Das Mindeste nach all dem, was ihnen im November 1938 angetan worden war.
Er hatte es nicht getan, allen Selbstvorwürfen zum Trotz. Und jetzt stand er hier, die Gestapo am Hals, vier Tote auf dem Gewissen, das Leben ruiniert. Wenn es mich schon erwischen soll, kam es ihm in einem Anflug von Sarkasmus in den Sinn, dann am besten gleich hier!
Auge in Auge mit dem Totenschädel, den er aus einem Wirrwarr von Efeu, Gestrüpp und vertrocknetem Laub geborgen hatte, jagte sein Leben mit atemberaubender Geschwindigkeit an ihm vorbei. Der Umzug nach England, die Diplomatenkarriere seines Vaters, die Schulzeit in…
Der Gedanke kam blitzartig, unerwartet und mit solcher Wucht, dass ihm buchstäblich die Luft wegblieb. War so etwas überhaupt möglich? Ein derartiger Zufall und das ausgerechnet jetzt, wo ihm das Wasser bis zum Halse stand?
»Sie kommen spät.« Die Stimme in seinem Rücken hatte etwas Vorwurfsvolles, keineswegs jedoch Bedrohliches an sich. Sie war melancholisch, weich und nicht frei von Resignation. Aber sie flößte Vertrauen ein. Und dies, wenn schon nicht sein Vertrauen in die menschliche Natur, war der Grund, weshalb Sydow den Schädel ins Gras bettete und sich ohne einen Anflug von Panik umdrehte.
Es war der anonyme Anrufer, die drei Worte hatten genügt. Sydow hatte ihn sich ganz anders vorgestellt, eher groß, kräftig und resolut. Und nicht bärtig, ungepflegt und leicht gebeugt. Das hier war ein Mann, der einiges mitgemacht hatte, obwohl sein Alter, wenn überhaupt, höchstens 30 betrug.
»Ich hoffe, Sie werden mir diesen Auftritt verzeihen–aber ich wollte auf Nummer sicher gehen.«
»Mit anderen Worten, Sie haben mich die ganze Zeit über beobachtet!«, antwortete Sydow gereizt, wobei er selbst nicht genau wusste, warum. »Falls Sie es noch nicht gemerkt haben sollten. Mir kann man tatsächlich trauen!«
Statt zu antworten, irrte der Blick des Mannes zwischen Sydow und dem geschändeten Grab hin und her. »Kommt hier droben leider immer häufiger vor!«, entgegnete er in resigniertem Ton, während er sich mit der Hand den Nacken massierte.
»Sind Sie…«, setzte Sydow zu einer Erwiderung an, brach jedoch mitten im Satz ab.
»Nein, nein, da liegen Sie völlig falsch, Herr Kommissar«, beteuerte der Mann amüsiert.
»Heißt das, Sie können Gedanken lesen?«
»Das am allerwenigsten!«, fügte er mit verschmitztem Lächeln hinzu. »Dass ich hier heimisch geworden bin, heißt jedenfalls nicht, dass ich Jude bin.«
»Heimisch? Wie darf ich das verstehen?«
»Soll ich Ihnen was sagen, Herr Kommissar? Auf die Gefahr hin, mit einem Hüter des Gesetzes in Konflikt zu geraten?«
»Nur zu.«
»Dass Sie bei der Kripo sind, merkt man wirklich sofort.«
»Etwa, weil ich die falschen Fragen stelle?«
»Schon gut, schon gut!«, lenkte Sydows Gesprächspartner mit treuherzigem Lächeln ein. »Kein Grund zur Aufregung! Um zu Ihrer Frage zurückzukommen, dies hier ist mein Domizil.«
»Wie bitte?«
»Behausung trifft es wohl eher. Oder Unterschlupf.«
»Anders ausgedrückt, Sie sind desertiert.«
»Mein Kompliment, Herr Kommissar!«, gab der Mann mit der Andeutung eines Händeklatschens zurück. »Sie begreifen wirklich schnell.«
»Danke für die Blumen!«, konterte Sydow scharf. »Jetzt ist mir einiges klar.«
»So, ist es das?« Auf einmal war der Mann wie verwandelt. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, schien er über etwas nachzudenken. Und das ausgesprochen gründlich. Doch dann, nachdem fast eine Minute verstrichen war, streckte er plötzlich die Hand aus und sagte: »Paul Helfrich.«
»Tom Sydow. Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
»Mich ebenso.«
»Und das von vorhin trifft wirklich zu?«, fragte Sydow beim Händeschütteln.
»Das mit dem Domizil? Na klar. Eine gut getarnte Grube, nach Möglichkeit nicht in Grabnähe–und fertig ist die Wohnidylle. Der Vorteil dabei, man hat wenigstens seine Ruhe. Auf die Idee, ausgerechnet hier nach mir zu suchen, ist die Gestapo jedenfalls noch nicht gekommen.« Helfrich wurde plötzlich nachdenklich und merkte an: » Noch nicht.«
»Hört sich so an, als hätten Sie einiges hinter sich.«
»Kann man wohl sagen.«
»Und was?«
»Gute Frage.« Helfrich ließ sich auf einem Baumstumpf nieder, stützte die Handflächen auf die Knie und starrte ins Leere. »Bis Kriegsbeginn lief eigentlich alles normal. Ich wollte Ingenieur werden. Achtes Semester. Beim Wollen ist es dann allerdings geblieben. Sie haben mich eingezogen. Polen, Frankreich und quasi zur Krönung nach…«
»Russland.«
»Genau.«
»Wie gesagt, da haben Sie ja einiges hinter sich.«
Als habe sich Sydow einen makaberen Scherz erlaubt, streifte ihn Helfrich mit seinem Blick, hob einen Stein auf und wog ihn in der Hand. Dann warf er ihn in hohem Bogen ins Gebüsch. »Nichts für ungut, Herr Kommissar, aber ich glaube, Sie haben nicht die geringste Ahnung, was ich alles hinter mir habe!«
»Wenn dem so ist, lassen Sie hören.«
»Sicher?«
Sydow nickte, und um es Helfrich nicht unnötig zu erschweren, ließ er den Blick über die mit Moos, Efeu und mitunter auch Steinen bedeckten Grabplatten schweifen. Es war merkwürdig still, zu still nach Sydows Geschmack, und die Hitze machte nicht einmal vor dem von Kastanien überschatteten Friedhof Halt.
»Angefangen hat es im Juli 1941«, begann Helfrich in dem für ihn typischen, halb melancholischen, halb resignierten Ton. »Irgendwo in der Nähe von Minsk. Wo genau, weiß ich ehrlich gesagt nicht mehr.«
»Angefangen? Mit was denn?«
»Mit dieser Schlachterei.« Die Ellbogen auf den Knien, bedeckte Helfrich die Augen und schüttelte den Kopf. »Wenn mir jemand davon erzählt hätte, wäre ich dem Betreffenden an die Gurgel gegangen. Oder noch schlimmer. Im günstigsten Fall hätte ich ihm einfach nicht geglaubt.«
Nichts Gutes ahnend, deutete Sydow ein Nicken an und schwieg.
Doch Helfrich beachtete ihn nicht und fuhr wie in einem Selbstgespräch fort: »Wie gesagt, es war Mitte Juli. Und verdammt heiß. Stechmücken wie Sand am Meer. Fast 50 Kilometer in den Knochen. Wie das eben so ist – zumindest bei der Infanterie! Auf jeden Fall hatte ich mich verdammt noch mal auf die Heia gefreut. Wurde aber nichts draus. Die Parole lautete: Gelände sichern. Freiwillige vor. Helfrich, Sie auch! Aber dalli! Wieder mal der Arsch. Wie sollte es auch anders sein.« Die Pause, die nun folgte, war wie die Ruhe vor dem Sturm. Sydow war auf das Schlimmste gefasst. »Was nun geschah, werde ich mein Lebtag nicht vergessen«, fuhr Helfrich fort. »Nach etwa einer halben Stunde kommen wir durch ein Birkenwäldchen. Plötzliche Schüsse. Salve auf Salve. MGs. So gut wie ohne Unterbrechung. Klar, denke ich, da drüben ballert irgendwo der Iwan rum. Fehlanzeige. Es war die SS.«
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