Sydow blieb nichts anderes übrig, als ebenfalls zu verduften, und als sein Maybach endlich angesprungen war, warf er einen kurzen Blick in den Rückspiegel–und war so platt wie schon lange nicht mehr.
Als habe er alle Zeit der Welt, verließ Kruppkes vermeintlicher Begleiter seinen Wagen, drückte die Zigarette aus und strich die Krawatte glatt. Dann rückte er seine Sonnenbrille gerade und schlenderte über die Straße, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. Sydow bekam den Mund nicht mehr zu. Die Szene war so unwirklich, dass sich ihm der Eindruck aufdrängte, der junge Mann im feinen Zwirn sei dabei, seinen ostelbischen Herrensitz zu inspizieren.
Doch dem war nicht so. Ohne sich im Mindesten an seiner Anwesenheit zu stören, blieb der Gestapo-Agent neben seinem sich vor Schmerzen krümmenden Kollegen stehen, zückte die Pistole und schoss sein Magazin bis auf die letzte Kugel leer.
Das Letzte, was Sydow registrierte, war sein Lächeln.
Dann nahm er sich zusammen, trat aufs Gas und raste mit quietschenden Reifen davon.
20
Berlin-Zehlendorf, König-Heinrich-Straße | 14.05h
Als er das Wohnzimmer der Möllendorfs betrat, beziehungsweise das, was davon übriggeblieben war, traute Kriminalassistent Erich Kalinke seinen Augen nicht. Das hier war der reinste Trümmerhaufen, das größte Chaos seit Attila.
Klinke blieb wie ein begossener Pudel stehen. Die Haustür offen, leergefegte Regale, aufgeschlitzte Polster–und jede Menge Krimskrams, der auf dem Boden herumlag. Um den Volksempfänger, nur noch ein Haufen Draht, Elektroden und Kabelsalat, war es natürlich nicht schade, noch weniger um ›Mein Kampf‹. Das Buch war einfach in die Ecke gepfeffert worden.
Nicht gerade die feine germanische Art, dachte Klinke, als sich seine Verblüffung allmählich zu legen begann. Ganz klar. Um dem Urheber des Durcheinanders auf die Spur zu kommen, bedurfte es keiner großen Fantasie. Die Frage war allerdings, warum die Gestapo die Bude des einstigen Vorzeige-Nazis auf den Kopf gestellt hatte. Und wo die Dame des Hauses, mit der er zu gerne ein paar Takte geredet hätte, abgeblieben war.
Eine Frage rein rhetorischer Natur, wie Klinke kurz darauf konstatierte. Die Miene des Zwei-Zentner-Mannes verfinsterte sich. Erst Tom und er, dann der Bombenanschlag und jetzt das. Der Fall, der schon längst keiner mehr war, drohte endgültig aus dem Ruder zu laufen.
Was also tun? Und überhaupt. Was war so wichtig, so wertvoll, dass dieses Verbrechersyndikat aus der Prinz-Albrecht-Straße den ganzen Laden aufgemischt hatte? Was zum Teufel hatte dieser Möllendorf ausgefressen, dass nicht nur er, sondern mittlerweile auch Sydow und ein gewisser Erich Kalinke, wohnhaft in Berlin-Kreuzberg, auf der Abschussliste der Gestapo standen?
»Was haben Sie hier zu suchen? Und wie kommen Sie überhaupt hier rein?«
Die Waffe im Anschlag machte Kalinke eine Kehrtwendung, steckte sie aber sofort wieder weg. Ganz gegen sonstige Gewohnheiten waren seine Nerven nicht mehr die allerbesten. Die Kampfhenne an der Tür, der man die Zugehfrau schon aus 100Metern Entfernung ansah, war der lebende Beweis dafür. »Mein Name ist Kalinke, und ich komme durch die Tür!«, kalauerte er, was den Hausdrachen nur noch mehr gegen ihn aufbrachte.
»Wenn Sie nicht sofort sagen, weswegen Sie hier sind, rufe ich die Polizei!«
»Schon passiert!«, kostete Klinke seinen Triumph über die klapperdürre, mit Handtasche, Pelerine und Sonntagshütchen ausstaffierte Spätfünfzigerin in vollen Zügen aus. Der Dienstausweis, den er dem Hausdrachen vor die Nase hielt, durfte natürlich nicht fehlen.
»Da kann ja jeder kommen!«, schnappte die Frau zurück.
Klinke, dem der Sinn nicht nach langatmigen Erklärungen stand, ging gar nicht erst darauf ein. »Erich Kalinke, Kripo Berlin!«, fasste er sich betont kurz. »Mit wem habe ich das Vergnügen?«
»Erna Paschke.«
»Beruf?«
»Haushälterin.«
»Grund Ihres Hierseins?«
»Jetzt machen Sie aber mal einen Punkt!«, keifte der Dragoner. »Wer gibt Ihnen überhaupt das Recht…«
»Ist es Ihnen lieber, wenn ich Sie mit aufs Präsidium nehme, oder beantworten Sie jetzt endlich meine Fragen?«
Das saß. Klinke staunte über sich selbst. Anscheinend war genau dies der Ton, den die Frau verstand.
»Ich wollte einfach nach dem Rechten sehen«, gab der Hausdrache seinen Widerstand auf.
»Und das ausgerechnet an einem Sonntag? Ach ja, wenn wir gerade dabei sind. Wo ist eigentlich Frau Möllendorf geblieben?«
» Von Möllendorf.«
»Na schön, wie Sie wollen! Wann hat die Gestapo Ihre Brötchengeberin abgeholt? Und keinerlei Belehrungen mehr, wenn ich bitten darf!«
Normalerweise hätte Erna Paschke jetzt Gift und Galle gespuckt. Ein Blick auf gut zwei Zentner angestauten Zorn überzeugte sie jedoch vom Gegenteil, und sie ließ es bei einem Naserümpfen bewenden. »Vor gut zwei Stunden.«
»Und woher wissen Sie das so genau?«
»Ich wohne schräg gegenüber.«
»Gut zu wissen. Und wieso haben Sie nichts unternommen?«
Die Frage war rhetorisch gemeint, verfehlte aber ihre Wirkung nicht.
»Gegen die Gestapo? Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst!«
»Und woher wissen Sie überhaupt, dass es die Gestapo war?«
Erna Paschke schlug die Augen nieder, umklammerte ihre Handtasche und ließ sich auf den nächstbesten Stuhl sinken. Aus ihrem Blick, der wie ein Pendel zwischen ihren auf Hochglanz polierten Sonntagsschuhen hin- und herschwang, sprach die Anspannung, unter der sie offensichtlich stand. »Weil sie heute Morgen schon mal da waren.«
»Etwas präziser, wenn ich bitten darf.«
»So gegen 7.30 Uhr.«
»Und wer genau?«
»Drei Männer.«
»Aha.«
»Drei Männer, von denen mir einer sofort aufgefallen ist.«
Klinke kniff die Augen zusammen und baute sich drohend vor der wie ein Häufchen Elend zusammengekauerten Zugehfrau auf. »Etwa, weil er wie eine schlechte Kopie von Himmler aussah? Mit Brille, Schmiss und allem Drum und Dran? Ein Albino wie aus dem Panoptikum?«
Erna Paschke blickte scheu zu ihm auf und verneinte.
»Hat er ausgesehen wie ein Albino–ja oder nein?«, legte Klinke energisch nach.
»Ja!«, lautete die verzweifelte Antwort, nachdem Klinkes Gesprächspartnerin in ihr Taschentuch geschnieft hatte.
»Na also, warum denn nicht gleich!« Er hasste es, so mit den Leuten umzuspringen, aber schließlich stand eine Menge auf dem Spiel. Viel mehr, als diese Frau ahnte. »Und wie lange hat diese Stippvisite gedauert?«
»Nur etwa zehn Minuten.«
»So kurz?«
Erna Paschke nickte stumm.
»Und weiter?«
Das Gesicht seiner Gesprächspartnerin verformte sich zu einer schmerzverzerrten Grimasse, und es kostete sie offenbar große Mühe, sich zu einer Antwort durchzuringen. »Keine drei Minuten, und ich hätte die Polizei gerufen!«, versicherte sie, während sich die Faust um ihr Taschentuch schloss.
Klinke ahnte, was jetzt kommen würde. Und stellte die Frage trotzdem. »Wieso?«
»Wieso, fragen Sie? Ganz einfach deshalb, weil man sie bis zu mir hinüber hat schreien hören!«
»Gibt es außer Ihnen noch jemanden, der Zeuge des Vorfalls geworden ist?«
»Bestimmt.«
Die Frage, die ihm auf der Zunge lag, behielt Klinke lieber für sich. Er kannte die Antwort auch so. »Wie lange stehen Sie eigentlich schon im Dienste der Familie?«, hielt er es für besser, das Thema zu wechseln.
»Neun Jahre, vier Monate und drei Tage.«
»Donnerwetter, da haben Sie aber genau Buch geführt.«
»Kann man wohl sagen.«
»Irre ich mich, oder klingt das nicht ein wenig resigniert?«
Klarer als mithilfe des Schweigens, das auf Klinkes Frage folgte, hätte Erna Paschke nicht antworten können.
Doch so schnell, noch dazu so kurz vor dem Ziel, gab Klinke nicht auf. »Mit anderen Worten, unter einer glücklichen Ehe stellt man sich etwas anderes vor.«
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