»Schon gut, schon gut!«, warf Sydow beschwichtigend ein. Klinkes Augen sprangen fast aus den Höhlen, ein falsches Wort, und es gäbe den größten Krach. Aber genau das wollte er unbedingt vermeiden. Der Feind stand woanders, nur wo, das war die Frage. Und vor allem, was Moebius & Co. noch alles in petto hatten. »Was hast du rausgekriegt?«
»Nichts Überraschendes. Für jemanden, der sich mit so was auskennt, das reinste Kinderspiel.« Klinke verschränkte die Hände hinter dem Kopf, lehnte sich zurück und sah ihn erwartungsvoll an.
Auf eine Reaktion seines Vorgesetzten nach beendeter Lektüre brauchte er nicht lange zu warten. »Plastiksprengstoff?«, fragte Sydow verblüfft.
»Du sagst es! Scheint so, als hätten die Jungs aus der Prinz-Albrecht-Straße an alles gedacht.«
»Wieso?«
»Na, du stellst mir vielleicht Fragen! Im Ernst! Der Sprengstoff, mit dem sie unsere Karre in die Luft gejagt haben, ist ein britisches Fabrikat. Sieht aus wie frisch aus dem Knetkasten und trägt die Bezeichnung PE-808. Auf gut Englisch: Plastics Explosive, in der Hauptsache aus Cyclotrimethylen-Trinitramin. Oftmals auch RDX oder Research Department Explosive genannt. Kapiert?«
»Und das alles, damit es nach außen wie ein britischer Anschlag aussieht. Bist ein helles Köpfchen, Dicker. Kompliment.«
Klinke lachte kurz auf, jedoch lange nicht so unbeschwert wie sonst. »Die arbeiten wirklich mit allen Tricks.«
»Das kannst du laut sagen! Die Frage ist nur, wie den Kerlen beizukommen ist. Beziehungsweise wie und unter welchen Umständen dieser Möllendorf ins Jenseits befördert worden ist.« Sydow drückte seine Zigarette aus, stand auf und trat ans Fenster, das der Hitze wegen offen war. Er konnte sich nicht helfen, aber irgendwie kam ihm das Panorama am Alexanderplatz total verändert vor. Er wirkte wie ausgestorben, Fußgänger und Autos konnte man an einer Hand abzählen. Eine eigentümliche Spannung lag in der Luft, durchbrochen nur durch den Zug, der soeben in den Bahnhof einfuhr. »Und vor allem, wieso!«, meinte er mit Blick auf das Kaufhaus ›Wertheim‹, Straßenbahnkreuzung und U-Bahn-Station.
»Ganz egal, wie, wann und wieso«, ließ Klinkes Antwort nicht lange auf sich warten. »Wer immer das getan hat, kann sich meiner innigen Fürsorge sicher sein.«
»Bist du dir sicher, dass du die Sache durchziehen willst?«
»Um nicht unnötig Zeit zu verschwenden, ich habe bereits mit Edith telefoniert.«
»Du hast was?«
»Keine Bange, sie hat nicht die Spur einer Ahnung.« Klinke sah auf die Uhr. »Wenn alles glattgeht, steigt sie gerade mit den Kindern in den Zug. Ab nach Breslau–zur Frau Mama!«
Zunächst einmal war Sydow erleichtert, aber es dauerte nicht lange, bis seine Skepsis wieder die Oberhand gewann. »Bist du dir wirklich sicher…«, wagte er den nächsten Versuch, Klinke die Gefährlichkeit ihres Vorhabens vor Augen zu führen. Doch der ließ ihn nicht einmal ausreden.
»Wenn du mich aufs Abstellgleis schieben willst, vergiss es, Tom!«, fiel ihm Klinke entschieden ins Wort. »Wenn hier jemand weiter an dem Fall arbeitet, dann nur wir beide! Auf die Tour wirst du mich jedenfalls nicht los.«
Sydow drehte sich um, ein Lächeln auf dem übernächtigten Gesicht. »Ehrlich gesagt habe ich auch mit nichts anderem gerechnet.«
»Dann bin ich ja beruhigt. Und was nun?«
»Fürs Erste bin ich erleichtert, dass der hochverehrte Herr Polizeipräsident die Wochenenden samt Familie am Wannsee zu verbringen pflegt.«
»Inklusive unseres Abteilungsleiters!«, ergänzte Klinke und schnitt eine Grimasse, die an Respektlosigkeit nicht zu überbieten war. »Durchaus zu begrüßen, wenn die beiden Stützen des Regimes mal Pause machen!«
»Eben!«, pflichtete ihm Sydow bei, obwohl ihm eigentlich nicht zum Lachen zumute war. »Aber Spaß beiseite! Wir müssen uns etwas ausdenken, bevor uns die da oben ins Handwerk pfuschen!«
»Keine Bange, wird uns schon etwas…« Klinke kam nicht dazu, den Satz zu vollenden, denn plötzlich klingelte das Telefon.
»Kripo Berlin!«, klang Sydow nicht gerade freundlich, denn der Anruf kam im denkbar ungünstigsten Moment. Doch sein Unmut verflog ebenso rasch, wie er gekommen war, und er hörte gespannt zu.
Der Mann am Telefon wollte anonym bleiben, und Sydow versuchte auch nicht, ihn umzustimmen. Darauf, wie er hieß, kam es im Moment nicht an, sondern auf das, was er ihm gerade anvertraute. Und das war Sprengstoff pur. Vorausgesetzt, er packte die Sache richtig an, würde ihn der Anrufer seinem Ziel ein erhebliches Stück näher bringen. »Keine Bange!«, tat er deshalb alles, um seinen Gesprächspartner zu beschwichtigen. »Wenn Sie den Tathergang schildern, wird Ihnen das keinerlei Nachteile bescheren!«
»Das sagt sich so leicht!«, antwortete der Mann in einem Ton, aus dem eine gehörige Portion Skepsis herauszuhören war. »Oder muss ich Sie darüber belehren, wie weit der Arm der Gestapo reicht?«
Nein, das musste der anonyme Anrufer nicht.
»Wie dem auch sei!«, wechselte Sydow rasch das Terrain. »Was mich betrifft, haben Sie keinerlei Repressalien zu befürchten!«
»Wäre ja noch schöner!«, konterte der Mann selbstbewusst. »Vor allem, wenn man bedenkt, dass ich der einzige Zeuge in einem Mordfall bin!«
»Ein Grund mehr, mir alles bis ins Detail zu schildern.«
»Wenn, dann aber nicht am Telefon!«
»Einverstanden. Wo dann?«
Die Antwort kam postwendend, der Anrufer überließ also nichts dem Zufall. »Kennen Sie den jüdischen Friedhof an der Pankower Chaussee?«
»Selbstverständlich. Und wo…«
»Am Grab von Moritz Mannheimer. Um 14 Uhr.« Der Mann am Telefon holte kurz Luft und fügte hinzu: »Selbstverständlich allein!« Dann hängte er auf.
»Etwas Neues?«, fragte Klinke, der das Gespräch mit wachsendem Interesse verfolgte hatte.
»Und ob!«, antwortete Sydow, schnappte sich seine Zigaretten und steckte sich eine an. Was der Mann gerade vom Stapel gelassen hatte, musste er erst verdauen.
»Möllendorf?«
»Genau.« Die Zigarette im Mundwinkel legte Sydow die Handflächen auf die Schreibtischkante und ließ das Gespräch Revue passieren. »Stell dir vor, der Kerl behauptet, Zeuge davon gewesen zu sein, wie Möllendorf auf der Parkbank gelandet ist. Dreimal darfst du raten, auf wen die Beschreibung des Anführers der Nacht-und-Nebel-Aktion passt! Na, fängts an zu klingeln, Dicker?«
»Doch nicht etwa auf Moebius?«
»Gratulation, Herr Kollege. Sie haben sich eine Beförderung verdient!«
»Scheiß drauf!«, war Klinke anscheinend nicht nach Sydows Scherzen zumute, weshalb er das Thema zurück auf den Anrufer brachte: »Wie hat er sich denn angehört?«
»Der anonyme Anrufer?« Sydow ließ sich auf seinen Stuhl sinken und spielte geistesabwesend mit dem Streichholzbriefchen herum. »Wie ein Mann in mittleren Jahren. Um die 40 vielleicht. Wenn überhaupt.«
»Und weiter?«
»Keine Ahnung. Ich kann mich zwar täuschen, wage aber zu behaupten, er kommt nicht aus Berlin.«
»Woher dann?«
»Das genau ist die Frage! Drauf wetten, dass er von hier ist, würde ich jedenfalls nicht.«
»Süddeutscher vielleicht?«
»Kann sein. Wieso fragst du?«
Klinke rieb sich nachdenklich das Kinn. »Gut möglich, dass es der Anrufer von heute Morgen war.«
»Doch nicht etwa der Mann, der Möllendorf gefunden hat?«
Klinke nickte. »Doch!«, bekräftigte er knapp. »Passt doch zusammen, oder nicht?«
Sydow ließ die Zähne über die Unterlippe gleiten und kratzte sich am Kopf. »Wie dem auch sei–in eineinhalb Stunden sind wir schlauer!«
»Treffpunkt?«
»Jüdischer Friedhof an der Pankower Chaussee.«
»Der ideale Platz für einen Plausch unter Freunden!«, feixte Klinke. »Bin gespannt, mit wem wir es da zu tun kriegen.«
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