Er hatte es geahnt. Wer weiß, vielleicht hatte er es sogar gewusst. Auf jeden Fall war da dieses Gefühl, dass irgendetwas mit der jungen Frau an der Bahnsteigkante nicht stimmte. Ein Gefühl, das sich Sekundenbruchteile später bewahrheiten sollte.
Der Zug war noch halb im Tunnel, als er sie sah. Im Nachhinein fragte er sich, warum er sich gerade auf sie fixierte, fand aber keine Antwort darauf. Seis drum, sie war bildhübsch, eine Spur zu mager vielleicht, aber ihr sanft gewelltes Haar, die geschwungenen Brauen und dunklen Augen waren einfach etwas Besonderes. Fast so sehr wie ihr Blick, aus dem eine Entschlossenheit sprach, die den Fahrer der Linie vier erschaudern ließ.
Dass sich jemand vor die U-Bahn warf, kam in letzter Zeit immer häufiger vor. Erst neulich war einem Kollegen das Gleiche passiert. Scheußliche Geschichte. Kaum zu beruhigen, der arme Tropf. Ein Erlebnis, auf das Waldemar glatt hätte verzichten können.
Doch es sollte anders kommen, wenn auch nicht so, wie er dachte. Diese Frau war anders, ganz anders als das Bild, das man sich von einer Selbstmörderin machte. Und dann war da noch etwas. Sie wirkte entschlossen, keine Frage. Nur eben nicht verzweifelt, verwirrt, zerstreut, durcheinander oder wie man den Gesichtsausdruck eines Selbstmörders sonst noch beschreiben würde.
Nein, diese Frau war anders. Auf eine Art, wie er es sich nie und nimmer hätte vorstellen können.
Als die Frau auf die Gleise sprang, bremste Waldemar nicht einmal mehr richtig ab. Hätte er es getan, wäre sowieso nichts mehr zu ändern gewesen. Die Sache war gelaufen, so oder so. Eines fiel ›Polacken-Waldi‹ jedoch sofort auf. Die Frau sprang nicht blindlings, sondern mit System. Keine zehn Meter mehr von der Lokführerkabine entfernt, vollführte sie eine Drehung und landete kopfüber auf dem Gleis. Der Aufschrei der übrigen Passanten war so laut, dass er das Bremsgeräusch übertönte, aber in diesem Moment war bereits alles vorbei.
Dachte er jedenfalls. Doch er sollte eines Besseren belehrt werden.
Waldemar kam nicht einmal dazu, sich von seinem Schreck zu erholen, denn im gleichen Moment, als er aus der Fahrerkabine stürzte, konnte er die Frau unter dem Waggon hervorkriechen sehen. Er glaubte zwar nicht an Gespenster, an Wunder dafür umso mehr. Spätestens seit dem heutigen Tag.
Die Frau wirkte ein wenig benommen, schien aber unverletzt. Die Bluse verdreckt, jede Menge Hautabschürfungen und blaue Flecken. Sonst war da nicht viel. Eben ein Wunder.
Wenn da nicht der Zug aus der Gegenrichtung gewesen wäre. Waldemars Mund formte sich zu einem ›Oh‹, doch die Frau war so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie nichts davon mitbekam. Waldemar brach der kalte Schweiß aus den Poren, und trotz seiner 1,90 m, 120 Kilo Lebendgewicht und jeder Menge dickem Fell wurde er von nackter Panik erfasst. Alles, was er in seiner Not tat, war, mit den Fäusten ans Fenster zu hämmern, aber es war genau das Richtige. Die Frau fuhr herum und sah ihn an.
Ein Blick, den er sein Lebtag nicht vergessen sollte.
Dann hechtete sie über das Gleis, kletterte über die Bahnsteigkante und rappelte sich auf, bevor der Zug in den Bahnhof einfuhr.
15
Berlin-Mitte, Prinz-Albrecht-Straße 8 | 12.00h
Der Trick war so simpel, dass er sich wunderte, warum die Gestapo noch nicht dahintergekommen war.
Kaum zu glauben.
Aber wahr.
Erster Akt: Funkspruch aus dem Cabinet War Room in London. Adressat: ein MI6-Agent in Berlin.
Teil zwei: Abschalten des Agenten.
Dritter Akt: Dechiffrierung. Sein Auftritt im Dienst Seiner Majestät, der Tarnung halber als Sturmführer der Gestapo. Nicht gerade seine Traumrolle, aber äußerst effektiv. Risiko gleich null, da die Überwachung des alliierten Funkverkehrs zu seinem Aufgabengebiet in der Abteilung ›Gegner, Sabotage und Schutzdienst‹ und als Verbindungsmann zum Auslandsnachrichtendienst gehörte.
Finale: Ausführung der Weisungen aus London. Ein Finale mit Happy End?
Genau das war das Problem. Der Marder schaute nachdenklich. Verdammt harte Nuss, keine Frage. Dieser Heydrich hatte wirklich an fast alles gedacht.
Aber eben nur fast.
Zugegeben, dass er bei Möllendorf an den Falschen geraten war, hatte der Herr Reichsprotektor nicht unbedingt voraussehen können. Und schon gar nicht, dass seine Telefonate abgehört wurden. Der Marder lächelte verschmitzt. Der allmächtige Heydrich–Opfer der Fallstricke, die er jahrelang ausgelegt hatte. Eine Ironie nach seinem Geschmack. Aber noch lange kein Grund zur Freude. Dafür war die Sache nämlich viel zu ernst.
Todernst, um es genau zu sagen.
Es half alles nichts! Er musste herauskriegen, wo sich Heydrichs Giftschrank befand. Beziehungsweise die Akten, die darin gebunkert gewesen waren. Und das, wenn möglich, so schnell es ging. Denn wie er Sydow kannte, würde er nicht locker lassen. Der nicht. Da waren die Kollegen an den Falschen geraten.
Pech gehabt.
Genauso wie Möllendorfs Frau. Gut möglich, dass sie nicht wusste, wie viel Dreck der Herr Gemahl am Stecken gehabt hatte. Die Miene des Marders verdüsterte sich, und die stahlblauen Augen verloren ihren Glanz. Wie dem auch sei, dachte er, bis jetzt hat sie jedenfalls dicht gehalten! Wie lange noch, war allerdings die Frage. Und ob sie die ›Sonderbehandlung‹, der man sie gerade unterzog, überstehen würde.
Dennoch, es gab nichts, was er für die Frau tun konnte. Es sei denn, er würde sich selbst ans Messer liefern.
Der Marder ließ die Kladde mit dem Codeschlüssel in seinem Safe verschwinden, schaltete das Funkgerät vom Typ ›Köln E 52-a/b‹ ab und trat ans Fenster, das der Wärme wegen offen stand. Das ehemalige preußische Abgeordnetenhaus zur Linken, das Reichsluftfahrtministerium im Hintergrund rechts–ein Panorama, auf das er hätte verzichten können. Hier droben, in den oberen Stockwerken der Gestapo-Zentrale, kam man nämlich vor Hitze fast um, und wenn der Wetterbericht stimmte, würde dies auch so bleiben. Einem plötzlichen Impuls nachgebend, zog der Marder die Gardinen zu und fuhr mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn. Nichts Schlimmeres, als untätig rumsitzen zu müssen, aber so lange Heydrichs Giftschrank verschollen blieb, gab es für ihn nur eins: abwarten. Warten auf den alles entscheidenden Moment. Und darauf hoffen, dass ihm Sydow nicht in die Quere kam.
Der Marder trank einen Schluck Lipton, ein Teespleen aus Etoner Tagen. Überhaupt–Eton! Eine glückliche Zeit, zweifellos. Bis zu dem Tag, an dem sein Alter pleite ging und sich ein halbes Jahr später die Kugel gab. Ende der Vorstellung! Trotzdem, für Reminiszenzen, gleich welcher Art, war in diesem Geschäft kein Platz. Er hatte einen Auftrag, und den würde er ausführen.
Rücksichtslos.
Ohne dass er sich dessen bewusst wurde, fuhr die Hand des Marders an sein Pistolenhalfter, aber das Telefon holte ihn schlagartig aus seinen Grübeleien.
»Referat vier A!«, bellte er in den Hörer. So etwas kam bei der Gestapo bekanntlich gut an.
»Bitte die Störung zu entschuldigen, Sturmführer!«, antwortete der Wachhabende devot. »Aber es ist wichtig!«
Noch so ein Bastard, dem nicht zu trauen ist, dachte der Marder bei sich. Zu klein, zu fett, zu schmierig. Er konnte diese Kreuzung aus Göring und Goebbels auf den Tod nicht ausstehen. »So wichtig, dass ich meinen Tee nicht zu Ende trinken kann?«
»Mit Sicherheit.«
»Und worum handelt es sich?«
»Geheime Kommandosache, Sturmführer. Ich denke, Sie wissen so gut wie ich, was das heißt.«
Natürlich, du Trottel, dachte der Marder und schnitt eine Grimasse. Selbstverständlich wusste er, was das hieß. Lange herumraten brauchte man da nicht. »Der Giftschrank, hab ich recht?«
Doch so leicht ließ sich der Wachhabende nicht aus der Reserve locken. »Bedaure, diesbezüglich Auskünfte zu erteilen steht mir nun wirklich nicht zu! Wenn, denke ich, wird Ihnen der Obersturmführer…«
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