Genau da aber hatte sie einen Fehler gemacht, nur zu verständlich, aber folgenschwer.
Der Blick über die Schulter war das Falscheste, was sie hätte tun können. Er war flüchtig gewesen, nur leider eben nicht gekonnt genug. Um ihren Verfolger zu täuschen, hatten ihre Schauspielkünste einfach nicht ausgereicht. Dafür hatte sie zu viel durchmachen müssen.
Und Lots Frau sah hinter sich und ward zur Salzsäule.
Ein Fehler, und nicht nur das. Denn eines war dem Mann mit der Sonnenbrille, dem breitkrempigen Hut und dem schäbigen Anzug natürlich sofort klar gewesen: Sie, Rebecca Kahn, würde ihn nicht etwa zu irgendwelchen Mitwissern, Komplizen oder Geheimtreffen führen. Sie würde das genaue Gegenteil tun. Und vor allem würde sie versuchen, ihre Haut zu retten.
Und zwar mit aller Macht.
Das hieß: Sie ging aufs Ganze. Rebecca hatte noch einmal durchgeatmet. Dann war sie losgerannt. Ohne sich umzudrehen, ohne Hilferuf, ohne Ziel. Der nächste Fehler, aber einer, auf den es nicht mehr angekommen war.
Die Fontäne auf dem Victoria-Luise-Platz hatte sie kaum beachtet, das U-Bahn-Schild umso mehr. Erst jetzt, kurz vor der Treppenflucht, die zum Bahnsteig der Linie U4 führte, waren die ersten Passanten aufgetaucht, aber Rebecca hatte keinen Blick für sie gehabt. Wenn ihr jemand helfen konnte, dann sie selbst. Wegen einer Jüdin, an deren Fersen ein Gestapo-Spitzel klebte, würde kein Mensch einen Finger krumm machen. Mit Sicherheit nicht.
Rebecca hatte nur noch Augen für die Treppe gehabt, erst zwei, dann mehrere Stufen auf einmal genommen und sich mit halsbrecherischer Geschwindigkeit die Treppe hinuntergestürzt. Immer noch dicht auf ihren Fersen, hatte sich der Gestapo-Agent nicht abschütteln lassen. Der lautstarke Protest eines Zeitungsverkäufers, der zwar sich, nicht aber seine Ware in Sicherheit bringen konnte, war Beweis genug gewesen.
Alles, was sie jetzt hätte brauchen können, wäre ein Quäntchen Glück gewesen. Beim Anblick der U-Bahn, die soeben in der Dunkelheit verschwand, konnte jedoch keine Rede mehr davon sein. Kaum hatte Rebecca Luft geholt, war auch schon der Gestapo-Schnüffler aufgetaucht, und das ohne erkennbare Hast. Warum, war ihr kurz darauf klar geworden.
Der Mann mit der Sonnenbrille war nicht allein gewesen.
Zuerst hatte sie gedacht, der Bahnsteig sei leer, außer einem Betrunkenen und einer Frau, die Selbstgespräche führte. Ein Fehler, wie sich noch zeigen sollte. Denn da war noch jemand gewesen. Und zwar ein Mann mit einer Zeitung vor dem Gesicht. Er war einfach nur dagestanden, locker, entspannt, mit dem Rücken zur Wand. Einer Bewegung, gleich welcher Art, hätte es auch nicht bedurft. Dass er mit ihrem Verfolger unter einer Decke steckte, war von Anfang an klar gewesen. Wer wie sie seit Monaten auf der Flucht war, konnte Gefahr förmlich riechen, und genau dies war hier der Fall.
Wie gesagt–wäre die Falle zugeschnappt, hätte sie keine Chance gehabt. Doch das tat sie nicht. Ein Vorteil, der nicht ungenutzt verstreichen würde.
Rebecca strich sich die Haare aus dem Gesicht und atmete tief durch. Das hatte sie auch bitter nötig. Die Luft war stickig, abgestanden und roch nach Dieselöl, so durchdringend, dass ihr fast schlecht davon wurde.
Ihrer Körperhaltung nach zu urteilen waren sich die Gestapo-Schergen ihrer Sache absolut sicher. Mit dem Ergebnis, dass sie es waren, die den nächsten Fehler machten, nämlich den, ihr Opfer zu unterschätzen. Hätten sie gewusst, mit wem sie es zu tun hatten, wäre alles ganz anders gekommen.
So aber ließen sie sich Zeit, und sei es nur, um sich an ihrer Verzweiflung zu weiden. Oder an ihrer Angst, typisch für eine derartige Situation. Doch nicht mit ihr. Rebeccas Körper straffte sich, und im gleichen Moment stand ihr Entschluss fest. Eins zu zehn, dass es klappen würde. Mehr nicht. Aber allein das war den Versuch wert.
Mit jeder Sekunde, die verstrich, stiegen Rebeccas Chancen, aber das wussten die beiden Schnüffler nicht. Ein grimmiges Lächeln flog über ihr hohlwangiges Gesicht. Nur jemand wie sie konnte auf eine derart tollkühne Idee verfallen. Um ein derartiges Risiko einzugehen, musste einem das Wasser schon bis zum Hals stehen. So wie in ihrem Fall. Ein höheres war schlichtweg nicht möglich, das stand fest. Zu verlieren gab es eine Menge, nicht zuletzt ihr Leben. Zu gewinnen jedoch ungleich mehr.
Und wenn es nur eine weitere Galgenfrist war.
Gut möglich, dass es ihr Gesichtsausdruck war, der ihre Verfolger bewog, ihre abwartende Haltung aufzugeben. Oder aber die Tatsache, dass sich der Bahnsteig spürbar zu beleben begann. Ein Indiz, dass die Ankunft des nächsten Zuges unmittelbar bevorstand.
Nur noch ein, zwei Minuten. Höchstens drei. Dann, und nur dann, hätte sie eine Chance.
Als könne er Gedanken lesen, beendete der Unbekannte seine Lektüre, steckte die Zeitung ein und nickte seinem Kollegen zu. Dann setzte er sich mit aufgesetzter Lässigkeit in Bewegung und schlenderte auf sie zu.
Kahl rasierter Schädel, Narbengesicht und Boxernase. Ein Schlägertyp aus dem Effeff.
Er hatte es auf sie abgesehen. Das war Rebecca vollkommen klar, spätestens in dem Moment, als ihr der Mann mit der Sonnenbrille den Weg abschnitt. Dass auf dem Bahnsteig wieder mehr Betrieb herrschte, würde das Unvermeidliche nur ein wenig hinauszögern, zu verhindern war es nicht.
Es sei denn, alles würde so laufen wie geplant.
Rebecca schickte ein Stoßgebet zum Himmel und ließ den Blick zwischen den beiden hin- und herwandern. Der Mann mit der Sonnenbrille war höchstens zehn Meter entfernt, das Narbengesicht nicht viel mehr. Zu ihrer Überraschung blieb der Schnüffler jedoch Sekundenbruchteile später stehen, ein angewidertes Grinsen im Gesicht. Der Grund hierfür war ein unvorhergesehener, nämlich der Betrunkene, der ihn um Feuer bat.
Ob Zufall oder nicht, es war dieser Mann, der dafür sorgte, dass Rebecca überhaupt noch eine Chance hatte. Dieser Mann und die Tatsache, dass der nächste Zug im Anrollen war. Eine Minute später, und Rebecca hätte ihren Plan vergessen können.
Doch jetzt, so kurz vor dem Ziel, würde sie sich von niemandem mehr aufhalten lassen. Und schon gar nicht von dem Mann mit der Brille. »Geheime Staatspolizei–mitkommen!«, forderte er sie in barschem Ton auf, aber Rebecca hörte nicht mehr richtig hin. Ihr Entschluss stand fest, und daran würde dieser Henkersknecht nichts mehr ändern. Als er sie am Arm packte, zerrte sie sich einfach los, rammte ihm den Ellbogen in die Rippen und schlängelte sich mit katzenhafter Gewandtheit auf die Bahnsteigkante zu.
Von dem, was dann geschah, bekam Rebecca nicht mehr das Geringste mit. Weder davon, dass das Narbengesicht den Betrunkenen zur Seite stieß, auf sie zurannte und wie elektrisiert stehen blieb, als er ihre Absicht durchschaute, noch davon, dass sich der Mann mit der Sonnenbrille aufrappelte, sich einen Weg zu ihr bahnte und sich beim Herannahen des Zuges an den Kopf fasste.
Eine Art Dunstschleier hatte sich über sie herabgesenkt, so dicht, dass alles dahinter verschwand. Mit Ausnahme der Vorderlichter des Zuges, die das Einzige waren, was noch in ihr Bewusstsein drang. Sämtliche Geräusche, sogar das Quietschen der Bremsen, blieben hinter dem Schleier zurück, gerade so, als ginge sie das alles nichts mehr an. Und doch war dem nicht so. Das Einzige, was im Augenblick zählte, waren die Lichter, die sich mit quälender Langsamkeit auf sie zubewegten.
Und Gott, dem ihr letzter Gedanke galt, bevor sie sprang.
*
»Heilige Madonna von Częstochowa, steh mir bei!« Nein, so was hatte er noch nie erlebt. Jedenfalls nicht, solange er U-Bahnen fuhr.
Eine geruhsame Frühschicht und danach eine Berliner Weiße mit Schuss. Mehr hatte Waldemar Opaczynski, Kosename ›Polacken-Waldi‹, von diesem Sonntagmorgen nicht erwartet. Doch er hatte sich zu früh gefreut. Es kam etwas dazwischen, das er sein Lebtag nicht vergessen sollte.
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