11
Berlin-Schöneberg, Hohenstaufenstraße | 09.30h
Ein nagelneues Namensschild. Genau dort, wo früher ihr Name stand. Das tat weh, weit mehr als körperlicher Schmerz.
Die junge Frau mit den überschatteten Augen, dem ausgemergelten Gesicht und der durchgeschwitzten Bluse war wie betäubt. Einfach unmöglich so etwas zu begreifen! Jetzt und auch in Zukunft.
Aber so war das eben. So wie ihr ging es Hunderten, ach was, Tausenden von Juden in Berlin. Über Rebeccas Gesicht huschte ein ironisches Lächeln. Wenigstens die Klingel war noch die gleiche. Ein schwacher Trost, aber immerhin.
Und dennoch, sie würde darüber hinwegkommen. Wie über so vieles, was ihr in den vergangenen Wochen und Monaten widerfahren war. Nicht mit mir, schwor sie sich. Nicht mit Rebecca Kahn. So wahr Gott ihr Zeuge war.
»Wat denn, Kind, wie siehst du denn aus?«
Wäre ihr die Stimme in ihrem Rücken nicht bekannt vorgekommen, hätte Rebecca das Weite gesucht. So aber gelang es ihr, wenigstens eine Spur von Gelassenheit an den Tag zu legen und sich ohne große Hektik umzudrehen. Da sich die Frage jedoch von selbst beantwortete, war ein gequältes Lächeln das Einzige, wozu sie sich aufraffen konnte.
»Nerven haste, det muss dir der Neid lassen«, keuchte die übergewichtige, knapp 60-jährige Frau, griff sich an die Hüfte und rückte so nahe wie möglich an Rebecca heran.
»Gut möglich, aber ich wollte einfach noch einmal nach Hause!«, entgegnete Rebecca unbeirrt und ließ den Blick über das fünfstöckige Mietshaus wandern. Noch war wenig Verkehr auf der Straße, und so fiel ihr Zwiegespräch mit der ältlichen Matrone nicht sonderlich auf.
Noch nicht.
Die Frau im Sonntagsornat, aus dem der altmodische Hut, Schirm und die schwarz geränderte Handtasche besonders hervorstachen, keuchte wie eine Lokomotive. »Keene jute Idee!«, stieß sie mühsam hervor. »Wenn det eener mitkriegt, biste jeliefert, det kannste mir glauben.«
»Wenn ich mir über eins im Klaren bin, dann darüber, Mutter Schulze!«, antwortete Rebecca und machte Anstalten zu gehen.
»Wat denn, wat denn, Rebeccachen, so schnell scheißen de Nazis nich!«
Beim Anblick der Frau, die so aussah, als sei sie einem Notizbuch von Zille entsprungen, musste Rebecca unwillkürlich lächeln. Und das, obwohl ihr beileibe nicht danach zumute war.
»Wo haste denn die janze Zeit über jesteckt?«
»Das behalte ich lieber für mich, Mutter Schulze.«
»Und deene Mutter?«
Während die Hand am Türpfosten Halt suchte, sackte Rebeccas Kopf kraftlos nach vorn. Die Tränen schossen ihr nur so in die Augen, ob sie wollte oder nicht.
»Det janze braune Pack soll meenetwegen doch glatt die Krätze kriegen!«, polterte Rebeccas ehemalige Nachbarin drauflos und ergänzte: »Keene Angst, Rebeccachen, ne olle Scharteke wie ick kann ab und zu ruhig die Klappe aufreißen! Wat kann mir denn schon noch passieren!«
»Nicht böse sein, Mutter Schulze. Aber sind Sie sicher, dass Sie eine Ahnung haben, was einem heutzutage so alles passieren kann?«
Hermine Schulze, Kriegerwitwe und stolze Besitzerin eines Trödelladens, ließ es bei einem Kopfnicken bewenden, hakte sich bei ihr unter und schleifte sie mit sich fort. »Weeß ick, Rebeccachen, weeß ick!«, bekräftigte sie. »Dat Adolf hat euch Juden böse mitjespielt! Und det mit deene Mutter–ick kriegs in meene matschige Birne nich rinn! Und dann erst die Sache mit Papa Kahn–anständijer als sämtliche Parteibonzen zusammen! Eisernes Kreuz–det musste dir mal vorstellen!«
»Danke, Mutter Schulze, aber ich denke, ich muss jetzt langsam wieder…«
»Gar nüscht musste, Rebeccachen, gar nüscht. Erst päppele ick dir wiedern bisscken uff, un dann wirds schon weitergehn!«
»... gehen, sonst…«
»Papperlapapp! Nüscht wie rinn in meene Kabuff, bevor der Herr Blockwart am Ende noch Lunte riecht!«
»Ich weiß es zu schätzen, Mutter Schulze–ehrlich! Aber wenn Sie sich mit mir abgeben, werden Sie und Ihr Sohn eine Menge Scherereien…«
»Nur die Ruhe! Bis jetzt sind wir zwo ollen Tratschweiber niemandem uffjefallen, un dat soll ja wohl ooch so bleiben, nich wahr? Un wat meen Kalle anjeht–den hamse einjezogen!«
»Und wohin?«
»Russland. Erst jestern hat er mirn Feldpostbrief jeschickt. Riesenschlamassel, aber sonst jehts ihm jut!«
»Hoffen wir, dass es auch so bleibt!«
»Recht haste, Rebeccachen! Dat Problem is nur, dat se bald wieder in Marsch jesetzt werden.«
»Der Ärmste! Und wohin?«
»Wat weeß ick! Irjendn Kaff an der Wolga–ick gloob, es heeßt Stalingrad!«
12
Berlin-Tiergarten, Ost-West-Achse | 09.45h
»Klarer Fall von Mord, keine Frage!«, sagte Klinke und überholte eine BMW R 35, die mit überhöhter Geschwindigkeit über die Ost-West-Achse preschte. Der Fahrer verstand den Wink mit dem Zaunpfahl und bremste ab. »Aber wieso?«
»Eben!«, antwortete Sydow, als der VW-Kübelwagen wieder auf der rechten Spur einfädelte.
»Wieso? Und vor allem, was hat die Gestapo damit zu tun?«
»Glaubst du, die haben von Möllendorf auf dem Gewissen?«
»Keine Ahnung. Fest steht, dass sie uns aus dem Verkehr ziehen wollten. Oder vielmehr wollen. Und das offensichtlich mit allen Mitteln. Jede Wette, dass uns dieser Moebius demnächst wieder auf die Pelle rückt.«
»Mit anderen Worten, die Sache ist eine Nummer zu groß für uns und wir sollten uns überlegen, ob wir nicht lieber die Finger davon lassen.«
Um seinen Kater endgültig in die Flucht zu schlagen, kurbelte Sydow das Fenster herunter, legte den Ellbogen auf die Kante und lehnte sich zurück. »Auf keinen Fall!«, entschied er sofort. »Es sei denn, dir wird die Sache zu heiß. Wegen Edith und der Kinder, meine ich.«
»Und wenn schon!«, gab Klinke achselzuckend, aber wenig überzeugend zurück, reihte sich in den Kreisverkehr an der Siegessäule ein, um ihn gleich darauf in Richtung Brandenburger Tor wieder zu verlassen.
»Sieben Kilometer betonierte Angeberei, Kandelaber, Säulen und was weiß ich nicht alles für ein Schrott! Und das zum Spottpreis von 60 Millionen im Jahr! Wenn dieser Speer keine Meise hat, will ich Winston Churchill heißen!«, grummelte Sydow vor sich hin.
»Lieber nicht!«, ging Klinke bereitwillig auf den Themenwechsel ein. »Dazu bist du einfach nicht schön genug! Von mangelnder Trinkfestigkeit gar nicht zu reden.«
»Hahaha! Sehr witzig!«, blaffte Sydow, während sein Magen hörbar zu rebellieren begann. »Ist ja nicht jeder so grundsolide wie du.«
»Nee. Neidisch?«
»Nicht die Bohne. Auf die Gefahr, dass du gleich eingeschnappt bist. So etwas wie bei dir und Edith ist einfach nichts für mich.«
»Sagst du .«
»Weiß ich.«
»Na gut!«, antwortete Klinke pikiert, während seine Finger auf dem Lenkrad herumtrommelten. Mit einem verkaterten Tom Sydow war nicht gut Kirschen essen, deshalb hielt er lieber den Mund.
»Sauer?«, brach dieser erst kurz vor dem Brandenburger Tor sein Schweigen.
»Sauer? Ich? Wenn, dann höchstens, weil wegen der Beerdigung von Heydrich so viel…«
»Was hast du da eben gesagt?«
»… Theater gemacht wird. Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?«
»Aber klar doch, tu ich!«, warf Sydow halbherzig ein und starrte die überdimensionalen schwarzen Stoffbahnen, Vorboten des Staatsbegräbnisses in zwei Tagen, mit nachdenklicher Miene an.
»Was ist denn auf einmal mit dir los?«
»Nichts!«, beteuerte Sydow, während sie die Säulenhalle hinter dem Tor passierten, vor der die Ehrenformation der SS Aufstellung nahm. Auf dem Boulevard Unter den Linden das gleiche Bild: Säulen, mit Trauerflor drapiert, Fahnen auf Halbmast und noch mehr Hakenkreuzfahnen als sonst. Eine Atmosphäre, die das Wort ›gespenstisch‹ nur unzureichend beschrieb.
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