Während der rote Zar seine Pfeife anzündete, dachte Berija angestrengt nach. Die Stille auf der Terrasse des etwa sieben Hektar großen, von Wiesen, Gärten und Fichten umgebenen Anwesens hatte etwas Bedrohliches an sich, trotz oder gerade wegen der fünf Meter hohen Palisade, mit der es umgeben war. Es war die Stille vor der Entscheidung, die Ruhe vor dem Sturm.
»Und? Irgendwelche Ideen?« Stalin schnippte das Streichholz in den Aschenbecher, schlug die Beine übereinander und ließ sich in seinen Korbsessel sinken. Ganz anders Berija, dessen Blick auf dem mit Akten, Depeschen und persönlichen Papieren übersäten Gartentisch hin und her irrte.
»Wenn ich ehrlich bin, nein!«, hörte sich seine Antwort etwas kläglich an.
»Hm.« Stalin zog an seiner Pfeife, nahm die Schirmmütze ab und kratzte sich hinterm Ohr. Bevor Berija darüber nachgrübeln konnte, ob dies etwa ein schlechtes Zeichen sei, sagte er: »Scheint so, als würde sich unser Tanz auf dem Drahtseil noch eine Weile in die Länge ziehen.«
Berija schaltete sofort, ein für das Überleben in Stalins Umgebung unverzichtbares Requisit. »Wenn Sie die Geheimverhandlungen mit den Deutschen meinen, Josef Wissarion…«
»Genau die meine ich, Genosse Berija .«
Also doch. Er hätte es sich denken können. Berija schob seine randlose Brille hoch, massierte die Nasenflügel und rückte das Gestell anschließend auf umständliche Weise zurecht. Der erhoffte Zeitgewinn war jedoch gering. Er musste sich etwas einfallen lassen, umso mehr, als er anderer Meinung war.
»Ich bin mir nicht sicher, ob eine Wiederaufnahme der Geheimverhandlungen mit den Deutschen der richtige Weg ist, um uns aus der gegenwärtigen, zugegebenermaßen äußerst prekären Situation zu…«
»Aber ich.«
Stalin sah Berija nicht einmal an, sondern ließ einen Rauchkringel aufsteigen und den Blick über die mit Zierpflanzen, Rabatten und Blumenkübeln umgebene Veranda schweifen.
Berija schluckte. »Wenn dem tatsächlich so ist«, änderte er seinen Kurs, »gebe ich zu bedenken, dass dabei mit äußerster Vorsicht zu Werke gegangen werden muss.«
»Das versteht sich ja wohl von selbst. Wenn Roosevelt und Churchill etwas mitkriegen, wird das sicherlich Konsequenzen haben.«
»Und nicht zu knapp, Josef Wissarionowitsch. Zumal nach Heydrichs Tod vor drei Tagen etliche Kontakte neu geknüpft werden müssen. Damit nur ja nichts in falsche Hände gerät. Kaum auszudenken, wenn irgendetwas davon nach außen dringt. Wir wären blamiert bis auf die Knochen, von Spannungen innerhalb der Kriegsallianz nicht zu reden.«
»Sind Sie sich da so sicher, Lawrenti Pawlowitsch? Die Yankees und die Briten brauchen uns, sonst können die den Krieg doch glatt vergessen!«
Berija lächelte gequält. »Besser, es diesbezüglich nicht darauf ankommen zu lassen, Josef Wissarionowitsch, oder nicht?«
»Mag sein.« Auf einmal war Stalin nachdenklich geworden. »Bekanntermaßen ist diesem Hitler ja wohl nicht zu trauen.«
»Und selbst wenn–die Deutschen werden einen hohen Preis verlangen. Das Baltikum, Weißrussland, die Ukraine–möglicherweise sogar die Krim. Ein zu hoher Preis, wie ich finde.«
Stalin rieb sich nachdenklich das Kinn. »Na gut!«, gestand er widerwillig ein. »Lassen wir die Sache lieber bleiben und hoffen, dass sich die Dinge zu unserem Vorteil entwickeln. Trotz der hohen Verluste, die wir dabei unweigerlich in Kauf nehmen müssen.«
»Vollkommen richtig, Josef Wissarionowitsch. Lassen wir die Vergangenheit lieber ruhen. Dementsprechend gering wird die Gefahr sein, dass irgendjemand etwas von unseren Geheimverhandlungen mit den Deutschen…«
Die Schritte auf dem Kiesbelag waren so eilig, dass Lawrenti Berija prompt den Faden verlor. Bleich wie der Tod dachte er zuerst an das Schlimmste, nämlich seine Verhaftung, sprang auf und wirbelte herum. Kaum hatte er in dem Ankömmling jedoch seinen Adjutanten erkannt, entspannte er sich wieder. Zu früh, wie ihm schmerzlich bewusst werden sollte: »Genosse Stalin, Lawrenti Pawlowitsch!«, stieß der völlig außer Atem geratene NKWD-Leutnant hervor und kam erst kurz vor dem Gartentisch zum Stehen. »Dringende Nachrichten aus Berlin!«
»Und die wären?«, ließ Stalin mit stoischer Gelassenheit verlauten, aber da hielt Berija die Depesche bereits in der Hand.
»Danke, Karganowitsch, Sie können gehen!«, war alles, was Berija noch herausbrachte.
Dann musste er sich setzten.
»Neuigkeiten?«
Berija antwortete nicht sofort, las die Nachricht zum zweiten, kurz darauf zum dritten Mal. Er war kreidebleich, so konfus, wie er es sich selbst nicht hätte vorstellen können. »Und ob!«, stammelte er und ließ den Brief auf die zitternden Knie sinken.
»Jetzt machen Sie es halt nicht so spannend, Lawrenti Pawlowitsch!«, forderte ihn Stalin mit spöttischer Miene auf. Aber selbst ihm sollte das Lachen noch vergehen.
»Eine Katastrophe, Genosse Stalin. Eine blanke Katastrophe!«, antwortete Berija, wobei es ihn nicht mehr in seinem Korbsessel hielt.
»Und wieso?«
»Heydrichs Geheimsafe ist geknackt worden. Sämtliche Unterlagen sind verschwunden, inklusive der Gesprächsprotokolle, die während und nach meinen Geheimverhandlungen mit den Deutschen angefertigt wurden.«
»Was? Das darf doch wohl nicht wahr sein!«
»Ist es aber!«, erwiderte Berija geknickt.
»Woher wissen Sie das?«
»Von einer unserer Quellen in Berlin.«
»Zuverlässig?«
»Mit Verlaub, Genosse, das Beste, was wir momentan zu bieten haben. Eine Speerspitze der Arbeiterklasse, ohne Fehl und Tadel.«
Stalin klopfte den Pfeifenkopf aus, nahm die ›Prawda‹ in die Hand und faltete sie seelenruhig auseinander. »Wenn dem so ist, Genosse, wird es vermutlich ein Kinderspiel sein, mithilfe dieses Wundermannes wieder in den Besitz dieser Geheimprotokolle zu kommen!«
»Bei allem gebührenden Respekt, Josef Wissarionowitsch: Mein bestes Pferd im Stall ist eine Frau.«
Stalin blickte überrascht auf. »Eine Frau? Wie das?«
Berija schmunzelte. »Glück für uns, dass der mutmaßliche Dieb offenbar nichts Besseres zu tun hatte, als sich nach getaner Arbeit…«
»... in einem Bordell zu entspannen, stimmts?«
»Woher…«
»Woher ich das weiß, Lawrenti Pawlowitsch?«, würgte Stalin seinen Geheimdienstchef mit hintergründigem Lächeln ab. »Erfahrung, Genosse, weiter nichts. Und das Gesprächsprotokoll?«
»Nicht auffindbar.«
»Eine reizvolle Aufgabe, in der Tat.«
»Wie meinen, Josef Wissarionowitsch?«, ließ Berija kläglich verlauten.
»Was ich damit meine, Lawrenti Pawlowitsch, liegt doch wohl auf der Hand.«
»Ach, ja?«
»Aber gewiss doch!«, versetzte Stalin mit sichtlichem Vergnügen. »Sie beziehungsweise Ihre sagenumwobene Spezialagentin in Berlin werden alles daransetzen, um in den Besitz von Heydrichs Geheimakten zu gelangen. Koste es, was es wolle.«
»Nicht gerade ein Kinderspiel, Josef Wissarionowitsch.«
»Und warum?«
»Besagter Agentin zufolge wurde der Mann, der die Geheimakten mitgehen ließ, anscheinend bereits liquidiert.«
»Und wo liegt dann das Problem?«
»Wie bereits erwähnt, Genosse Stalin, liegt das Problem darin, dass kein Mensch, nicht einmal unsere Kontaktperson, die leiseste Ahnung hat, wo die Geheimunterlagen abgeblieben sind.«
»Umso größer der Anreiz, Genosse Berija, Ihr Können wieder einmal unter Beweis zu stellen!«, antwortete Stalin mit boshaftem Lächeln und wandte sich wieder seiner Lektüre zu. »Ich denke, Sie wissen am besten, was in einem derartigen Fall zu tun ist!«
Berija nickte. Oh ja, das wusste er. Schließlich hing sein Überleben davon ab. Und das nicht nur im übertragenen Sinn.
Und wenn es darum ging, es zu sichern, war Lawrenti Berija schon immer extrem erfinderisch gewesen.
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