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»Mal ehrlich, musste das wirklich sein?« Endlich wieder an der frischen Luft, öffnete Klinke den Hemdkragen und atmete tief durch.
Sydow antwortete mit einem Achselzucken. »Keine Ahnung!«, brummelte er vergrätzt, steckte sich eine Zigarette an und ließ das Streichholz in den nächstbesten Gully fallen. »Eins ist jedenfalls klar, die gute Frau lügt wie gedruckt. Darauf kannst du Gift nehmen.«
»Nach dir, Herr Kommissar!«, gab Klinke gänzlich unbeeindruckt zurück. »Und wenn sie Schiss hat, was dann?«
»Na, du machst mir vielleicht Spaß!«
»Wieso?«
»Da spielt diese Scharteke Katz und Maus mit uns, und unser Berliner Teddy mit den Riesenkulleraugen kriegt sich vor Mitleid fast nicht mehr ein!«
»Na, na, na! Jetzt mach aber mal halblang! Redet man so über eine Dame aus adligem Haus? Noch dazu, wenn man selbst blaues Blut in den Adern hat?«
»Ach, rutsch mir doch mitsamt deinem Kreuzberger Karnickelstall den Buckel runter!«
»Ganz wie Ihre Lordschaft wünschen!«, frotzelte Klinke drauflos. »Wenn wir die Sache hinter uns gebracht haben, stehen Edith, die Kinder und meine Wenigkeit Ihnen gerne zur Verfügung! Aber im Ernst, was liegt als Nächstes an?«
»Erst mal schauen, was die Spurensicherung sagt. Dann sehen wir weiter.«
»Ich sags ja nicht gerne, aber das mit dem Linkshänder war ein Geistesblitz der Güteklasse A.«
»Verbindlichsten Dank. Was das bedeutet, muss ich dir ja wohl nicht sagen.«
»Ärger hoch drei, ich weiß.« Auf einmal war Klinke das Frotzeln vergangen, und er machte ein betretenes Gesicht. »Sollte sich bestätigen, dass sich der Herr Sturmbannführer nicht selbst die Kugel gegeben hat, haben wir ein Problem.«
»Ich wüsste nicht, wieso.«
»Was soll denn das jetzt schon wieder heißen?«
Im Begriff, Klinke eine Antwort zu geben, drehte sich Sydow instinktiv um. Zu Recht, wie ein Blick auf die hin und her schaukelnden Wohnzimmergardinen bewies. Der Kommissar tat so, als sei ihm nichts aufgefallen und ließ den Blick über das nagelneue Anwesen mit Vorgarten schweifen. Nichts für kleine Geldbeutel, dachte er. Für Haus und Garten hatte der Herr Sturmbannführer gut und gerne 120Reichsmark berappen müssen, wenn das mal reichte. Weit mehr jedenfalls, als ein Arbeiter im Monat verdiente. Blanker Hohn, wenn man das Gefasel von der Volksgemeinschaft für bare Münze nahm. Sydow verzog das Gesicht. Kein Wunder, dass er immer öfter über die Stränge schlug.
»Was das heißen soll?«, schreckte Sydow aus seinen Gedanken auf. »Doch wohl nichts anderes, als dass wir auf dem besten Weg sind, jemand ganz Bestimmtem in die Quere zu kommen! Oder bildest du dir ein, Moebius und seine zwei Berggorillas sind rein zufällig aufgekreuzt? Etwa, um uns guten Morgen zu wünschen? Komm schon, Klinke, das glaubst du doch wohl selber nicht! Da steckt mehr dahinter, wesentlich mehr. Die Sache stinkt, und zwar gewaltig!«
Klinke brauchte zwei, drei Sekunden, um die Pointe zu verdauen, und nachdem das der Fall war, hatte sich sein optimistisches Naturell in Luft aufgelöst. »Daher also die Schnapsidee, die Leiche nicht von Boehm, sondern von deinem Kumpel an der Charité obduzieren zu lassen!«, antwortete er gedrückt und schwieg sich geraume Zeit aus. »Wenn das mal keinen Ärger gibt!«
»Den gibts gratis, darauf kannst du wetten!«
»Lieber nicht!« Klinke brach abrupt ab, kramte seine Autoschlüssel hervor und machte Anstalten, die Straße zu überqueren. Kurz bevor er den VW-Kübelwagen auf der anderen Seite erreichte, drehte er sich zu Sydow um, der ihm auf dem Fuße folgte.
»Für den Fall, dass du recht hast, ist die Kacke ja wohl gewaltig am Dampfen!«, raunte er ihm über die Schulter zu. »Auf die Gefahr, weiter in deiner Achtung zu sinken: Ich für meinen Teil kann es immer noch nicht so richtig…«
Weiter kam Klinke nicht.
Der Mercedes Benz 230 kam von rechts. Die Sonne blendete ihn, und vielleicht war das auch der Grund, warum Sydows Assistent das dunkle Cabriolet zunächst nicht bemerkte.
Nur ein, zwei Schritte. Dann wäre er aus dem Schneider gewesen. Egal, ob die Limousine mit 100 Sachen vorbeidonnerte oder nicht. So aber blieb Klinke wie auf dem Präsentierteller stehen. Gut zwei Zentner geballte Kraft, die sich keinen Millimeter von der Stelle rührten.
Genau so, wie man es von ihm erwartete.
Als der Fahrer der Limousine einen höheren Gang einlegte, heulte der Sechszylinder-Motor kurz auf. Auf der Windschutzscheibe spiegelte sich die Sonne, der Grund, weshalb Sydow die Insassen nicht sah.
Aber das war auch nicht nötig. Er wusste auch so, wer sich dahinter verbarg.
Und reagierte entsprechend.
Während Klinke in einer reflexartigen Bewegung die Augen überschattete, war Sydow schon über ihm. Der Mercedes war nur noch wenige Meter entfernt, das Motorengeräusch so laut, dass es sämtliche Sinne lähmte.
Sekundenbruchteile später war bereits alles vorüber. Klinke landete auf der Kühlerhaube, Sydow auf dem knochenharten Asphalt. Bevor er sich aufrappelte, immer noch auf allen Vieren, sah er der davonrasenden Limousine hinterher. Zu spät. Sie war bereits hinter der nächsten Biegung verschwunden.
»Noch Fragen?«, war das Erste, was Klinke zu hören bekam, als er sich langsam von seinem Schreck erholte.
Kriminalassistent Erich Kalinke schüttelte den Kopf. Er hatte genug gesehen.
Genug, um sich nicht groß darüber zu wundern, dass seine Berliner Schnauze fürs Erste den Geist aufgab.
10
Stalins Datscha in Kunzewo bei Moskau | 11.30h OZ
»Neuigkeiten von der Front?«
Lawrenti Berija, NKWD-Chef und meistgefürchteter Mann der Sowjetunion, schob seine Tasse weg, nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. Er war 42, mittelgroß und Kaukasier, und vor allem war er völlig skrupellos. Für seine Mitmenschen hatte er nur Verachtung übrig, mit Ausnahme des Mannes, dem er gegenübersaß. Der einzige Mensch, in dessen Gegenwart ihn eine seltene Gefühlsregung beschlich: Angst.
Und deshalb, nicht etwa aus Unwissenheit, überlegte sich der allmächtige Geheimdienstchef seine Antwort genau. »Wie heißt es doch so schön?«, wagte er einen makaberen Scherz. »Im Westen nichts Neues!«
»Mit anderen Worten?« Der Kopf hinter der Titelseite der ›Prawda‹, von dem nur das volle, nach hinten gekämmte Haar zu sehen war, rührte sich keinen Zentimeter. »Wie ist die Lage?«
Berija fingerte nervös an seinem Brillengestell herum. »Ernst, aber nicht hoffnungslos, Josef Wissarionowitsch.«
»Im Klartext?«
»Leningrad im Würgegriff, Kiew besetzt, Moskau aus dem Schneider. Fürs Erste jedenfalls.«
»Na klar, sonst säßen wir beide ja nicht hier. Und im Südosten?«
»Kaum Aussicht auf Erfolg.« Berija schloss die Augen und massierte die zerfurchte Stirn. »Sewastopol unter schwerem Beschuss, die Deutschen auf dem Vormarsch.«
»Sonst noch was?«
»Nein, Josef Wissarionowitsch.«
»Nicht gerade vielversprechend.«
»Allerdings, Josef…«
»Zur Sache, Lawrenti Pawlowitsch. Wir müssen uns etwas einfallen lassen, und zwar schnell.«
Als sein knapp 54-jähriger Tischnachbar die Lektüre der Parteizeitung beendet hatte, nahm Lawrenti Berija instinktiv Haltung an. Er hasste sich dafür, obwohl er diesbezüglich nicht allein war. Vor Stalin hatten sie nämlich alle Angst, je höher, desto mehr. »Ganz recht, Josef Wissarionowitsch. Ich wüsste nur zu gern, wie.«
Wie immer, wenn er jemanden unter Druck setzen wollte, schwieg sich Stalin aus. Die gelbbraunen Augen wirkten wie leblos, die Unterlippe wie ein farbloser Strich. Berija hielt den Atem an. Der Mann, vor dem Millionen zitterten, pockennarbig, schnauzbärtig und hintertrieben wie kaum ein Zweiter, hatte es wieder einmal geschafft. Sogar er, Herr der Lubjanka, hatte Angst vor ihm. Vor allem dann, wenn er mit Stalin alleine war. Wie jetzt, in diesem Moment.
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