»Und der Tausendbomberangriff auf Köln vor einer Woche?«
Beneš setzte zu einer Erwiderung an, hielt sich jedoch lieber zurück. Churchill kam dies nicht ungelegen, und so schwieg auch er sich nach Kräften aus und wandte sich dem Frühstück zu: Eier, Toast und Speck. Dazu ein Glas Sherry. Das einzig Wahre, um einen Tag zu beginnen, von dem er nicht wusste, welche neuerlichen Hiobsbotschaften er ihm bescheren würde.
Nach zwei Drinks und etlichen Minuten später wurde es ihm aber dann doch zu bunt. Das weiß getünchte Frühstückszimmer, Teil seiner unterirdischen Kommandozentrale, strahlte ungefähr so viel Gemütlichkeit aus wie eine U-Bahn-Station. Trotz Tisch, Anrichte und Bildern an der Wand. Churchill konnte einen Stoßseufzer gerade noch unterdrücken. Lieber in der Downing Street und das Risiko eines Bombenangriffs als 15 Meter unter der Erde. Und dann noch dieser Beneš mit seinem furchtbaren Akzent, penetrant bis zum Gehtnichtmehr. Einfach zum Verrücktwerden.
»Vegetarier, Abstinenzler und Schonkost–dieser Hitler muss wirklich verrückt sein!«, versuchte Churchill das Gespräch wieder in Gang zu bringen und schenkte sich einen weiteren Sherry nach. Über das indignierte Stirnrunzeln seines Gastes sah er großzügig hinweg.
Leider reagierte Beneš nicht wie erhofft. »Wenn das so weitergeht, bleibt kein Stein auf dem anderen!«, ließ er nicht locker. »Verhaftungen, Folterungen, Hinrichtungen–ich weiß nicht, wohin das noch führen soll!«
»Gehe ich fehl in der Annahme, dass Sie, lieber Beneš, einer derjenigen waren, die sich besonders vehement für das Attentat auf Heydrich ausgesprochen haben? Eine Operation, die durch den Einsatz einer britischen Halifax überhaupt erst möglich gemacht…«
Es war das Wandtelefon, das die Situation rettete. Churchill ließ Beneš einfach links liegen, stand auf und nahm den Hörer ab.
»Churchill.« Im Laufe des nur etwa einminütigen Gesprächs hellte sich Churchills Miene immer mehr auf, allem angestauten Ärger zum Trotz. Als er auflegte, war er blendender Laune und wandte sich wieder dem opulenten Frühstück zu. Auf die fragenden Blicke von Beneš reagierte er zunächst nicht. Das hatte natürlich etwas damit zu tun, dass der Secret Service am Apparat gewesen war. Aber auch damit, dass er diesem tschechischen Querulanten eins auswischen wollte.
»Endlich einmal wieder gute Neuigkeiten!«, blühte er regelrecht auf.
»Darf man erfahren, welche?«
»Bedaure!«, retournierte Churchill spitz. »Top secret!«
»Mit anderen Worten, es hat weder etwas mit Heydrich noch mit unserer gemeinsamen Operation zu tun.«
»Doch.«
»Und was?«
»Wie gesagt, mein lieber Beneš, top secret!«, antwortete Churchill mit hintergründigem Lächeln und schaufelte noch eine Portion Rührei auf den Teller. »Aber keine Sorge!«, munterte er seinen Gast rasch auf. »Mit ein bisschen Glück werden wir die SS samt Gestapo und SD bis auf die Knochen blamieren!«
9
SS-Kameradschaftssiedlung ›Krumme Lanke‹
Berlin-Zehlendorf, König-Heinrich-Straße | 09.10h
›Marineschule Mürwick, Crew 22. Oberleutnant zur See von Möllendorf.‹
Seekadetten, die für ein Abschlussfoto posieren. Teils schüchtern, teils mit unbändigem Stolz. Kaum einer älter als 18, die meisten fast noch ein Kind. Und daneben die obligatorische Erinnerungsplakette.
Das Foto ging ihm unter die Haut. Da konnte er machen, was er wollte. Die Erinnerung war einfach nicht totzukriegen. Damals, mit 18, war die Welt in Ordnung, seine Eltern noch zusammen und er, Thomas Randolph von Sydow, Zögling des englischen Nobelinternats Eton gewesen. Und heute? Keine Spur mehr von heiler Welt, nicht die Bohne. Der Kommissar raufte sich die rotblonde Mähne. Einfach zum Kotzen, in so einer Zeit leben zu müssen.
Sydow hängte das Bild wieder an seinen Platz, direkt neben die Erinnerungsplakette. Schluss damit, dachte er. Ein für alle Mal. Die alten Zeiten waren vorbei. Für immer. Kein Platz für Nostalgiegefühle. Und schon gar nicht für Selbstmitleid. Dienst war Dienst und Schnaps war Schnaps. Und der, beziehungsweise die Folgen seiner nächtlichen Eskapaden, setzten ihm immer noch zu. Trotz oder gerade wegen der Aufgabe, die er zu erfüllen hatte. Einer Aufgabe, die mit zum Unangenehmsten zählte, was einem Polizeibeamten passieren konnte.
»Oberleutnant zur See–wie interessant.« Sydow hatte die Bemerkung aus purer Verlegenheit gemacht. Die Wirkung, die er damit erzielte, war jedoch enorm.
Die Frau an der Verandatür, die trotz der sommerlichen Temperaturen Handschuhe trug, fuhr abrupt herum. Sie war höchstens 35, trug eine schwarz gestreifte Bluse mit gestärktem Kragen, den dazu passenden Rock und sah wie eine in die Jahre gekommene Gouvernante aus der Kaiserzeit aus. Der prüfende Blick und die ersten grauen Strähnen im streng gescheitelten Haar trugen das Ihre zu diesem Eindruck bei. Irene von Möllendorf wirkte gefasst, auf merkwürdige, um nicht zu sagen obszöne Art. Sydow runzelte die Stirn. Fehlt nur noch der Zwicker, dachte er bei sich. Echte Trauer stellte man sich jedenfalls anders vor.
»Und wer von denen ist Ihr Mann?«, warf Sydow aus purer Verlegenheit ein.
»Der da!«, erwiderte die Frau und zeigte auf das Bild. Sydow trat näher. Der Mann auf der Parkbank, in der Tat. Gut zu erkennen, obwohl das Foto 20 Jahre alt war. Sydow wollte sich schon wieder abwenden, als sein Blick auf den Mann neben ihm fiel. Er hatte zwar keine Ahnung, wieso. Aber er war sich sicher, dass ihm der schlaksige Seekadett auf dem Bild schon einmal über den Weg gelaufen war.
»Wenn wir Kinder gehabt hätten, wäre vielleicht alles ganz anders gekommen!« Damit war das Thema Marineschule für die Frau anscheinend schon wieder erledigt, und während Sydow noch nach Worten rang, faltete das Objekt seiner Bemühungen den Abschiedsbrief ihres Mannes zusammen und gab ihn kommentarlos zurück.
Sydow war wirklich nicht auf den Mund gefallen, aber dazu fiel selbst ihm nichts mehr ein. Er hatte sich alle möglichen Gedanken gemacht und dann so eine Reaktion.
Reichlich merkwürdig. Gelinde gesagt.
»Falls es Ihnen nichts ausmacht, hätten wir noch ein paar Fragen!«, fand Klinke als Erster die Sprache wieder, und Sydow war sich nicht sicher, ob dies ironisch zu verstehen war oder nicht. »Aber nur, wenn Sie wirklich dazu in der Lage sind!«
Die Frau machte eine wegwerfende Geste. Mit welcher Absicht, blieb unklar, und Sydow war auch nicht erpicht darauf, es zu erfahren. Er wollte nur eins, diesen Granitblock zum Reden bringen, und nachdem er Klinke kurz zugenickt hatte, ließ er sich in den ockerfarbenen Plüschsessel neben der Stehlampe plumpsen.
Die trauernde Witwe, die definitiv keine war, quittierte es mit eisiger Miene und wandte sich wieder der Verandatür zu. »Wenn es sein muss!« Sie machte aus ihrem Widerwillen keinen Hehl. »Aber wenn schon, dann bitte rasch!«
Sydow fragte sich, was denn so wichtig war, dass es mit dem Selbstmord des depressiven, angeblich lebensmüden Gatten konkurrieren konnte, aber da er Klinke nicht ins Handwerk pfuschen wollte, hielt er sich und sein ungestümes Temperament im Zaum. »Kommt ganz auf Sie an, Frau von Möllendorf!« Klinke gab sich unerwartet barsch.
»Und wieso?«
»Erlauben Sie, dass zunächst ich die Fragen stelle!«, setzte Klinke noch eins drauf und nahm seinen Notizblock zur Hand. »Also: Wann haben sie Ihren Mann zum letzten Mal lebend gesehen?«
Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. »Am Mittwoch!«, erwiderte sie schnippisch und strich eine graue Strähne hinters Ohr. »Bevor er zum Dienst gefahren ist.«
»Und wann war das?«
»So gegen 8 Uhr.«
»Zum Dienst, soso. Und wo?«
Obwohl die Frau so tat, als ließen sie die Fragen kalt, zahlte sich Klinkes Provokation umgehend aus. »Wo ein SS-Sturmbannführer gemeinhin zum Dienst zu erscheinen pflegt!«, giftete sie. »Wieso?«
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