Mitten im Satz brach Heydrich ab. Als ihn der wutentbrannte Reichsführer rügen wollte, musste er feststellen, dass er zu spät gekommen war.
Reinhard Heydrich, Obergruppenführer und Massenmörder, hatte noch volle zwei Tage zu leben. Im Koma, wo er einen Vorgeschmack auf die Hölle bekam.
Walhalla
Berlin/London/Moskau
(Sonntag, 07.06.1942/Montag, 08.06.1942)
6
Berlin-Wilmersdorf, ›Kolonie Emser Platz‹ 07.06. | 4.45h
Sie wollte schreien. Treten. Um sich schlagen. Aber sie konnte nicht. Ihre Füße fühlten sich an wie Blei, der Mund wie geknebelt. Was immer sie tat, es war umsonst. Von hier gab es kein Entrinnen.
Die Luft war zum Schneiden dick. Schweißdurchtränkt. Der Geruch nach Erbrochenem und Fäkalien nicht zu ertragen. Ringsum völlige Dunkelheit. Undurchdringlich. Die reinste Hölle.
Sie konnte das Rattern der Güterwaggons hören, das Wimmern ihrer Leidensgenossen, das Schluchzen der Kinder. Und sie konnte das Entsetzen der Älteren und Gebrechlichen nahezu körperlich spüren.
Es schnürte ihr regelrecht die Kehle zu.
Wie lange die Fahrt bereits dauerte, wusste sie nicht. Das Zeitgefühl war ihr abhanden gekommen, und mit ihm der Glaube, alles werde wieder gut. Lähmendes Entsetzen beherrschte ihre Sinne, eine bleierne, unüberwindliche Apathie. Und dann, urplötzlich der Impuls, sie müsse sich um ihre Mutter kümmern. Doch was Rebecca auch tat, ihre Mutter war und blieb verschwunden.
Spurlos.
An dieser Stelle ihres Albtraums begann Rebeccas Entsetzen gewöhnlich in Panik umzuschlagen. Nicht so am heutigen Tag. Auf einmal war der Traum vorbei, sie selbst wie benommen. Richtig wach wurde sie dennoch nicht.
Das sollte sich jedoch jäh ändern, als sie plötzlich Stimmen hörte. Unter ihnen zumindest eine, die sie kannte. Sie gehörte Bonin, dem Mann, der ihr Unterschlupf gewährte. Er hörte sich besorgt an, geradezu alarmiert. Auf jeden Fall ganz anders als sonst.
Doch es war der Klang der zweiten, ihr unbekannten Stimme, der Rebecca endgültig wach werden ließ. Diese Stimme verhieß nichts Gutes. Rebecca setzte sich auf, schwang die Beine von ihrer Pritsche und lauschte. Und wurde starr vor Entsetzen. Genau wie in ihrem Traum. Mit dem Unterschied, dass dies die Wirklichkeit war.
»Noch so eine dumme Ausrede, Bonin, und wir sehen uns gezwungen, Sie einer Sonderbehandlung zu unterziehen!« Auf einmal begann sich alles um Rebecca herum zu drehen. Sie hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten, hin- und hergerissen zwischen Furcht und Resignation.
Gestapo. Also doch. Sie hatten Bonin erwischt. Oder denunziert. Wann, wo und wie auch immer.
»Auf die Gefahr hin, dass Sie mir nicht glauben, Obersturmführer, ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon Sie reden!«
Der gute alte Bonin. Retter in der Not. Erst hatte er sie auf der Straße aufgelesen, dann über mehrere Zwischenstationen in dieses Gartenhaus gelotst. Und das, obwohl ihm die Gestapo längst auf den Fersen gewesen war.
»In diesem Fall, fürchte ich, werden Sie die Konsequenzen selbst zu tragen haben.«
Als Bonin gegen die Scheinwand prallte, hinter der sich Rebeccas Versteck befand, hätte sie beinahe laut aufgeschrien. Warum sie es nicht tat, wusste sie hinterher nicht mehr. Ein Gefühl grenzenloser Ohnmacht stieg in ihr empor, und um nicht laut loszuweinen, presste sie die zitternden Hände auf den Mund.
Die Stimme von Bonins Peiniger war jetzt ganz nahe. Gerade so, als spreche er mit ihr und nicht mit ihm. Aber noch hatte er den Mechanismus, mit dem sich die Tür der zwei auf drei Meter großen Geheimkammer öffnen ließ, nicht entdeckt. Wenn er so gewieft war, wie er tat, war es jedoch nur eine Frage der Zeit, bis er den Hebel hinter dem Stillleben fand. »Wenn es sich nicht vermeiden lässt, das Ganze eben noch einmal von vorn!«, leierte der Gestapo-Mann scheinbar gelangweilt, ja geradezu desinteressiert herunter. Reine Taktik, wie unschwer zu erkennen war: »Na los doch, Kruppke, helfen Sie ihm auf!«, schnauzte er seinen Begleiter an. »Schließlich haben wir noch was vor!«
Rebecca standen die Tränen in den Augen. Tränen der Verzweiflung und, als sie das unterdrückte Stöhnen jenseits der Trennwand hörte, auch solche der Wut. Die Miene der attraktiven jungen Frau verfinsterte sich. Nein, das sind keine Menschen, stellte sie grimmig fest, hochrot vor Zorn. Ein normaler Mensch tut so was nicht.
Und doch war es so. Rebecca stand im Zeitlupentempo auf. Wer, wenn nicht sie, hätte wissen müssen, wozu die beiden Folterknechte da draußen fähig waren?
»Machen wirs kurz, Scheißsozi!«, meldete sich der andere Gestapo-Beamte zu Wort, dessen Stimme den vulgären Schlägertypen verriet. »Wozu die Mühe, den ganzen Fresskram hierher zu schleppen? Wo Tausende Volksgenossen am Hungertuch nagen? Das reicht ja, um ein ganzes Bataillon satt zu kriegen!«
»Korrigieren Sie mich, Sturmführer, aber heißt es nicht, die Versorgung der Zivilbevölkerung sei nach wie vor das geringste Problem?«
Bonin hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, als er erneut gegen die Wand geschleudert wurde. Rebecca ballte die Rechte zur Faust. Der Aufprall, die halb erstickten Schreie und das zu Bruch gehende Mobiliar sprachen eine deutliche Sprache. Kein Zweifel, die Gestapo-Männer ließen es jetzt darauf ankommen: »Auf ein Neues, Vaterlandsverräter, für wen hast du das Zeugs da zusammengeramscht? Wohl ein Judenfreund, was?« Die Stimme des Obersturmführers hörte sich beileibe nicht mehr gelangweilt an. Aus ihr sprach der blanke Hass. Hass gepaart mit Brutalität und der Lust am Töten.
Dann wurde es still. Auf einmal. Über dem Gartenhaus in der Nähe des Kurfürstendamms lag die Ruhe eines Friedhofes. Rebecca erschauderte. Bonins Schicksal war besiegelt. Im selben Moment, als sich der Schlägertyp wieder zu Wort meldete: »So wie dir roter Drecksau wird es auch den ganzen anderen Ratten und Schmeißfliegen ergehen!« Mit diesen Worten goss er seine Häme über dem halb tot geprügelten Musiker aus. »Besser, du kooperierst! Hintermänner, Drahtzieher und die Namen der Schleuser. Das ist doch wohl nicht zu viel verlangt!«
Aber Bonin ließ sich nicht unterkriegen. Ein Wunder, wie viel Leben noch in dem tapferen kleinen Mann steckte. »Heydrichs Schicksal wird auch euch ereilen!«, stieß er mit dem Mut der Verzweiflung hervor. Bonin hatte nichts mehr zu verlieren, und er wusste es.
Rebecca presste die Handballen gegen die Stirn. Sie konnte und wollte nicht mehr hinhören. Was dieser Mann um ihretwillen auf sich nahm, brachte sie fast um den Verstand.
Doch was sie befürchtet hatte, blieb aus. Vorläufig. Fast schien es, als habe der Obersturmführer überhaupt nichts gehört: »Bevor wir dich zu Brei schlagen, du Ratte, noch eine kurze Frage!«, zischte er, während sich die Dielenbretter unter dem Gewicht seiner Stiefel bogen. »Wobei du hoffentlich klug genug bist, zu wissen, dass dein Abgang entweder auf rasche oder extrem qualvolle Weise über die Bühne gehen kann!«
»Und die wäre?«
»Wohin ist der Vogel ausgeflogen, dem du Unterschlupf gewährt hast? Leugnen bringt nichts, also raus mit der Sprache!«
Das linke Ohr gegen die Wand gepresst, lauschte Rebecca mit angehaltenem Atem ins Wohnzimmer hinüber. Die Tränen liefen ihr nur so übers Gesicht, und ihr Inneres war vollkommen aufgewühlt.
Totenstille. Rebecca hielt den Atem an. In diesem Moment würde sich alles entscheiden.
Kurz darauf undeutliches Murmeln. Ein Schuss aus einer schallgedämpften Pistole. Schleifgeräusche. Und Schritte, die sich in Richtung Tür entfernten.
Eine Blutlache, die Überreste einer Violine und eine Trümmerwüste: Bonins Hinterlassenschaften. Als Rebecca endlich aus ihrem Verschlag kroch, fühlte sie sich wie betäubt. Eine Weile stand sie regungslos, den Blick gesenkt. Dann sprach sie das jüdische Totengebet. »Segen, Segen diesem großen Namen. Jetzt und immerdar. Amen.«
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