»Zu Befehl!«, fügte Himmler zackig an, aber offenbar war die Energie seines Gesprächspartners so sehr erschöpft, dass er sich umdrehte, die Arme verschränkte und in brütendes Schweigen verfiel. Für Himmler ein Zeichen, dass das Gespräch so gut wie beendet war. Höchste Geheimhaltungsstufe! Das hörte sich alles so einfach an. Dummerweise waren diese beiden Quertreiber von der Berliner Kripo mit herkömmlichen Mitteln nicht klein zu kriegen. Die Folge: Er würde sich andere, ungleich härtere Maßnahmen einfallen lassen müssen. So zum Beispiel Sippenhaft. Damit kriegte man auch noch den renitentesten Zeitgenossen klein.
»Das war alles! Sie können gehen!«, ließ sich der Mann auf der anderen Seite des Vorhanges am Ende doch noch zu einer Bemerkung herab.
»Wie Sie befehlen, mein Führer!«, erwiderte Himmler militärisch knapp.
Dann wandte er sich zum Gehen.
»Wenn wir gerade dabei sind, Himmler!«, war der Reichsführer-SS allerdings noch nicht aus dem Schneider. »Wie geht es eigentlich mit den Vorbereitungen für Heydrichs Beerdigung voran?«
»Bestens, mein Führer!«, erwiderte Himmler, drehte sich auf dem Absatz um und erstarrte.
»Denken Sie dran. Das Beste ist gerade gut genug.«
»Wie darf ich das verstehen?«
»Genau so, wie es gemeint ist, Himmler. Bekanntermaßen ist Beerdigung ja nicht gleich Beerdigung.«
»Selbstverständlich, mein Führer!«, stieß Himmler sichtlich verunsichert hervor. »Ich verstehe.«
»Das bezweifle ich.«
Aus den Erfahrungen, die er während der letzten Jahre gesammelt hatte, hielt es Himmler für das Beste, zu schweigen. Er tat gut daran, denn seine Meinung war ohnehin nicht gefragt: »Es ist mein unabänderlicher Wille, Himmler«, klang es ihm förmlich in den Ohren, »dass Heydrich nicht nur mit allen militärischen Ehren bestattet, sondern ein Staatsbegräbnis erhalten wird.«
»Ein Staatsbegräbnis?«
»Genau. Mit allem, was dazugehört.«
Wenn Himmler je sprachlos gewesen war, dann in diesem Moment.
»Mit anderen Worten. Wir werden sämtliche Register ziehen. Ehrenkompanie, Flammenschalen, Trommelwirbel. Trauerzug durch Berlin und so weiter. Aufbahrung im Mosaiksaal der Reichskanzlei. Musik aus der ›Götterdämmerung‹ nicht zu vergessen, das rundet eine Trauerfeier erst richtig ab.«
»Und das bei jemandem, der sich dermaßen ruchlos verhalten hat?«, fiel es Himmler schwer, ein derartiges Ausmaß an Zynismus zu verdauen. Und das wollte bekanntlich etwas heißen.
» Gerade dann, Himmler!«, ließ die Antwort auf seine Frage jegliche Kompromissbereitschaft vermissen. »Wenn schon, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als diese Schmierenkomödie zu Ende zu bringen. Und da dem so ist, darf auf keinen Fall etwas nach außen dringen. Auf keinen Fall, hören Sie? Nicht auszudenken, wenn die Alliierten etwas davon mitbekämen. Dann könnten wir uns nämlich unser eigenes Grab schaufeln. Das ist Ihnen doch wohl hoffentlich klar!«
Himmler nestelte an seinem Uniformkragen herum. Das genau war das Problem, nämlich, ob die Sache auf Dauer geheim zu halten war. Zum einen vor den Alliierten, für deren Spione die Sache ein gefundenes Fressen sein würde, und andererseits vor diesen beiden Quertreibern von der Kripo, für die sie offenbar nicht heiß genug sein konnte. Noch nicht, denn dieses Problem würde sich bestimmt bald erledigen. Dafür würde er sorgen. Wenn es sein musste, sogar persönlich. »Selbstverständlich, mein Führer.«
»Und da wäre noch etwas, Reichsführer.«
Wenn er gedacht hatte, die Audienz sei für ihn beendet, sah sich Himmler getäuscht.
»Trifft es zu, dass allein in Berlin etwa 5.000 Juden untergetaucht sind?«
Der Reichsführer-SS schwitzte Blut und Wasser. Mit einem derartigen Frontalangriff hatte er nicht gerechnet. »Ich fürchte ja, mein Führer!«, stieß er mühsam hervor.
»Und wie ist das zu erklären?«
Himmler legte sich eine Antwort zurecht, doch nicht schnell genug, um der nächsten Attacke zuvorzukommen: »Damit Sie Bescheid wissen: Sollte es noch einmal vorkommen, dass sich einer oder eine der zu Deportierenden ihrem Abtransport durch Flucht entziehen und anschließend seelenruhig durch Berlin spazieren, sehe ich mich gezwungen, andere Saiten aufzuziehen! Haben Sie mich verstanden, Reichsführer?«
Oh ja, das hatte er.
Erstens: Liquidierung der beiden Kripobeamten. Wenn nötig, mit sämtlichen zur Verfügung stehenden Mitteln.
Zweitens: Jagd auf sämtliche Juden im Untergrund. Bis hin zu ihrer völligen Beseitigung.
Heinrich Himmler, Henker von Führers Gnaden, schlug die Hacken zusammen. »Zu Befehl!« Seine Beklommenheit war auf einen Schlag verschwunden. Wieder ganz der Alte, ein Mann, der bereits jetzt zu den größten Verbrechern des Jahrhunderts zählte, machte er einen Schritt auf die offene Flügeltür zu.
Doch da war niemand mehr.
Nur die drückende Schwüle, die ihm wie der Atem der Hölle erschien.
18
Berlin-Tiergarten, Lützowplatz | 13.20h
Schon von Weitem sah das vierstöckige Haus am noblen Lützowplatz alles andere als einladend aus. Der Erbauer, ein Magnat aus der Kaiserzeit, musste ein Faible für Burgen gehabt haben. Oder schlicht und ergreifend den falschen Architekten.
Doch darauf kam es im Moment nicht an. Dieses Haus, nur einen Steinwurf vom Landwehrkanal entfernt, war ihre letzte Hoffnung. So einfach war das. Einfach und deprimierend zugleich.
Während sie vor der Haustür stand, musste Rebecca an die Ereignisse des heutigen Tages denken. Mord, Verrat und eine halsbrecherische Flucht, die ebenso gut mit ihrem Tod hätte enden können. Sie war mit heiler Haut davongekommen, ein schwacher Trost. Denn mit der schwarzen Limousine, die sie vor der schwedischen Botschaft in der Tiergartenstraße bemerkt hatte, war ihr Plan, sich dort in Sicherheit zu bringen, gescheitert.
Um nicht unnötig Aufsehen zu erregen, ignorierte Rebecca die schmerzenden Gliedmaßen, zupfte an ihrem Kleid und steuerte forsch auf die Haustür zu. Ein Blick auf den Klingelknopf, und schon keimte Hoffnung in ihr auf. Die Familie, bei der sie jahrelang ein- und ausgegangen war, wohnte also noch hier. Vor vier Jahren, genauer gesagt im November 1938, hatte sie dieses Haus zum letzten Mal betreten.
Danach nie mehr.
»Sie wünschen?« Bis sich die Tür der geräumigen, um nicht zu sagen hochherrschaftlichen Wohnung im Obergeschoss einen Spalt weit öffnete, vergingen mehrere Minuten. Rebecca rechnete schon nicht mehr damit, dass jemand zu Hause war, aber dann stand sie Agnes, Freundin aus besseren Tagen, Auge in Auge gegenüber.
»Sie wünschen?«, wiederholte die junge Frau und sah sie naserümpfend an. Sie trug einen Uniformrock, Krawatte und ein Abzeichen mit der Aufschrift ›LH‹ auf der Bluse. Rebecca musste schon zweimal hinsehen, um in der drallen Flakhelferin genau die Frau zu erkennen, mit der sie jahrelang eng befreundet gewesen war.
Und doch war dem so. Irrtum ausgeschlossen.
»Agnes?« Rebecca hatte die Frage aus Verlegenheit gestellt, bereute sie jedoch rasch.
»Sollten Sie fortfahren, mich zu duzen, werde ich dafür Sorge tragen, dass man Ihre Personalien überprüft. Schneller, als Ihnen lieb sein kann.«
Das saß. Rebecca war völlig perplex. Auf den ersten Blick hatte es so ausgesehen, als habe Agnes sie nicht erkannt. Doch wie so häufig in letzter Zeit wurde Rebecca eines Besseren belehrt: »Falls es Sie interessiert«, riss der Kasernenhofton nicht etwa ab, sondern nahm an Schärfe noch zu, »wir sind gerade beim Mittagessen. Wenn du… wenn Sie also ein Anliegen haben, dann bitte schnell!«
Die leichte Röte im Gesicht der uniformierten Frau verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Rebecca musste sich am Geländer festhalten, nicht etwa aus Schwäche, sondern um sich klarzumachen, dass dies kein Albtraum war. Ein Anliegen? Wozu auch, eigentlich war doch alles gesagt. Rebeccas Kinn sackte nach vorn. Nur keine Tränen, nicht jetzt und vor allem nicht hier, machte sie sich selbst Mut. Auf eine Enttäuschung mehr oder weniger kam es nicht an. Trotz der Schmerzen, die kaum noch zu ertragen waren.
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