(Aus: Frederick Taylor: Die Mauer. 13. August 1961 bis 9. November 1989. München 2009, S. 194)
SUMMERTIME
Berlin
(Samstag, 12. 08.1961)
4
Berlin-Kreuzberg, Stresemannstraße | 00.05 h
Ernst Blaschkowitz konnte sein Glück kaum fassen.
Eigentlich hatte er nur in seine Stammkneipe gehen wollen. Auf ein Bier oder einen kurzen Plausch mit seinen Kumpanen. Einfach so. Wie an jedem Freitagabend, vor allem, wenn es so warm war wie heute.
Doch dann war dort auf einmal diese Brünette aufgetaucht. Weiß der Teufel, woher. Und hatte sich neben ihn an den Tresen gestellt.
Weiß der Teufel, wieso.
Nicht etwa, dass Blaschkowitz ein Kostverächter war. Davon konnte wirklich nicht die Rede sein. Nur leider nicht mehr der Jüngste, schon über 50, um bei der Wahrheit zu bleiben. Er hatte kaum noch Haare auf dem Kopf, eine Warze am Kinn und zu allem Überfluss eine Trinkernase. Und er war auch nicht übermäßig hell im Kopf. Wie geschaffen, um bei den Damen abzublitzen.
Aber davon hatte sich der steile Zahn neben ihm nicht abschrecken lassen. Im Gegenteil. Ernst, sonst eher ein zurückhaltender Mensch, war auf Anhieb wie elektrisiert gewesen. So ein Rasseweib wie dieser schlanke, vollbusige und knapp 30 Jahre alte Vamp, in den er sich auf Anhieb vergafft hatte, gab es nicht zweimal auf der Welt. Und in Kreuzberg sowieso nicht. Jede Wette.
Kein Wunder also, dass der gelernte Buchhalter, auf den die Damenwelt kaum je einen Blick verschwendete, Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hatte, um bei seiner Angebeteten, die ihn verflixt noch mal an eine Hollywooddiva à la Jane Russell erinnerte, auf jede nur erdenkliche Weise Eindruck zu schinden. Nur um festzustellen, dass dies im Grunde nicht nötig war. Denn nicht nur zu seiner, sondern zur Überraschung sämtlicher Anwesender waren seine Annäherungsversuche durchaus auf Gegenliebe gestoßen. Wer hier wen umgarnt hatte, war nach einer knappen Viertelstunde überhaupt nicht mehr klar gewesen, auch nicht, was eine mit sämtlichen Gaben der Natur ausgestattete Traumfrau an Ernst Blaschkowitz aus Kreuzberg eigentlich interessierte. Am allerwenigsten Ernst, für den es an diesem Abend, dem letzten seines eintönigen Lebens, nur noch die betörende, verführerisch duftende und ihn unentwegt umgarnende Unbekannte gegeben hatte.
Bereits gegen zehn, also eine knappe halbe Stunde nach ihrem Eintreffen, hatte Natalja, so ihr angeblicher Name, den Vorschlag gemacht, auf ein Gläschen oder zwei in ihr Domizil zu fahren. Nur so zum Spaß. Zu diesem Zeitpunkt hatte Ernst schon einen in der Krone gehabt und der Verlockung, endlich wieder eine Frau abschleppen zu können, natürlich nicht widerstehen können. Wer hier wen abgeschleppt hatte, konnte man zwar nicht mit Bestimmtheit sagen, Ernst sowieso nicht. Aber was machte das schon. Er hatte Feuer gefangen, und der Verdacht, hier könne etwas nicht in Ordnung sein, wäre ihm nie im Leben gekommen. Wie auch, wenn man nicht mehr wusste, was die weibliche Anatomie alles zu bieten hatte. So eine Chance, die größte seines Lebens, hatte sich Ernst Blaschkowitz natürlich nicht entgehen lassen wollen. Ohne Rücksicht auf die Konsequenzen, die sich aus seiner Blauäugigkeit ergeben würden.
Denn die gab es reichlich, obwohl der liebestrunkene Buchhalter keinen Gedanken daran verschwendet hatte. An die Fahrt mit dem Taxi konnte er sich später ohnehin kaum erinnern, an die Nobelherberge unweit des Potsdamer Platzes, in der seine Angebetete logierte, noch viel weniger. Etablissements wie dieses kannte er nur von außen, Schlafzimmer attraktiver Damen um die 30 allenfalls vom Hörensagen. Nein, auf die Idee, hier könne irgendetwas nicht in Ordnung sein, war Blaschkowitz einfach nicht gekommen. Ebenso wenig wie auf den Gedanken, dass in dem geräumigen, mit Himmelbett, Vorhängen aus chinesischer Seide und Lammfellteppichen ausgestatteten Boudoir der mysteriösen Unbekannten mehrere Kameras und jede Menge Wanzen versteckt sein könnten. In seinem Zustand wäre das auch ein bisschen viel verlangt gewesen, hatte er doch seine liebe Mühe gehabt, eine Flasche Raymond Boulard zu köpfen, mit seiner Eroberung anzustoßen und nach etlichen vergeblichen Versuchen den Reißverschluss ihres malvenfarbenen Kostüms zu öffnen.
»Würdest du mir einen Gefallen tun, Süßer?«, hauchte ihm der brünette Vamp schließlich ins Ohr, ausgerechnet in dem Moment, als sich Ernst Blaschkowitz aus Kreuzberg am Ziel seiner Wünsche wähnte. »Es soll dein Schaden nicht sein.«
»Jeden!«, versprach Blaschkowitz, trunken vor Glück, eine halb nackte Venus in seinen Armen zu halten, die ihn mit sanfter Gewalt auf ihr vergoldetes Messingbett zubugsierte. Und noch einmal: »Jeden.«
*
»Aber das hab ich Ihnen doch alles schon gesagt«, lamentierte der völlig konsternierte, aus allen Wolken gefallene Buchhalter immer und immer wieder und klammerte sich mit aschfahler Miene am Bettgestell fest. »Ich … habe keinen blassen Schimmer, wie sie heißt.« Im Kopf des in sich zusammengesunkenen und wie ein Häuflein Elend auf der Bettkante vor sich hinstierenden Möchtegern-Gigolos hörte es nicht auf zu rumoren, sodass er sich kaum auf seine Umgebung konzentrieren konnte. Das galt sowohl für den käseweißen Jungspund auf dem Chippendale-Sofa gegenüber wie auch für seinen Begleiter, einen grimmig dreinblickenden und pockennarbigen Afroamerikaner mit Sonnenbrille. »Das können Sie mir glauben.«
Offenbar war jedoch genau das nicht der Fall. »Oder woher sie kommt«, leierte der muskulöse CIA-Agent, der anscheinend jede freie Minute im Kraftraum verbrachte und sich allein schon deshalb von seinem Begleiter auf dem Chippendale-Sofa unterschied. »Na ja, wenigstens kennen Sie ihren Vornamen. Für den Anfang gar nicht mal so schlecht.«
»Anfang?«
»Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Mann. Falls Sie vorhaben, uns aufs Kreuz zu legen, wird das ernsthafte Konsequenzen haben, kapiert?«
»Konse…«, lallte Blaschkowitz, wagte es jedoch in Anbetracht der rüden Zurechtweisung nicht, weitere Fragen zu stellen. »So glauben Sie mir doch –«, beteuerte er stattdessen mit verzweifelter Miene, »sie ist eine Zufallsbekanntschaft. Mehr nicht.«
»Sehe ich das richtig: Sie behaupten, Ihre Gönnerin am gestrigen Abend zum ersten Mal gesehen zu haben?«, fragte der Pockennarbige, verschränkte die Arme und lehnte sich an die rot-weiß gestreifte Wand, an der ein Gemälde mit einer splitternackten Rokoko-Nymphe hing. »Das meinen Sie doch wohl nicht im Ernst.«
Im Begriff, Kontra zu geben, öffnete Blaschkowitz den ausgedörrten, nach Alkohol riechenden Mund.
Und überlegte es sich im letzten Moment anders.
Sein Gesprächspartner sah es mit Genugtuung, warf einen beiläufigen Blick auf das Gemälde und sagte: »Schon gewusst, dass die Dame, mit der sie sich vor einer Stunde vergnügt haben, in Wahrheit eine KGB-Agentin ist?«
Blaschkowitz verneinte.
»Tatsächlich?«
Verneinte abermals, ließ das Kinn auf die Brust sacken und schwieg.
»Eine Frage, Herr Blaschkowitz. Trifft es zu, dass Sie bis vor gut drei Jahren DDR-Bürger waren?«
»Ja.«
»Aus Frankfurt an der Oder?«
»Richtig.«
»Ehemaliges FDJ-Mitglied, im Anschluss daran Verwaltungsangestellter in einer LPG 16?«
»In der Tat.«
»Mitglied einer Delegationen, welche sich aus Anlass des zehnjährigen Bestehens Ihres Betriebes zu einem Freundschaftsbesuch in Moskau aufhielt?«
»Sagen Sie, worauf wollen Sie eigentlich …«
»Sie reden, wenn Sie gefragt werden, klar? Haben Sie sich in der Sowjetunion aufgehalten – ja oder nein?«
»Ja.«
»Sind Sie im Anschluss daran von der Stasi angeworben worden – ja oder nein?«
»Jawohl. Woher …?«
»Kurz darauf Flucht in den Westen, Heirat und Tätigkeit als Buchhalter?«
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