Noch einmal schaute sie auf die Uhr, als ob sich innerhalb einer Minute etwas Entscheidendes an der Zeit geändert hätte. Sie mußte sich nicht lange aufhalten, und bis ein Uhr konnte sie trotzdem wieder im The Fox and The Lamb sein.
Und was sollte schon passieren? Wenn sie der Anblick des Hauses nervlich überforderte, konnte sie sofort umdrehen und weglaufen.
Sie straffte die Schultern und schlug die vertraute Richtung ein.
Etwa eine halbe Stunde später erreichte sie den Park von Stanbury House. Sie näherte sich dem Anwesen von der rückwärtigen Seite, durchquerte das kleine Wäldchen, das hier das Grundstück begrenzte, und sah sich dann, als die Bäume sich teilten, unvermittelt dem Haus gegenüber, das, in strahlendes Sonnenlicht getaucht, wie ein idyllisches Postkartenbild aus einer vergangenen Epoche wirkte. Die Terrasse, die morgens immer im Schatten lag, war bereits überflutet von Sonne. Es war ein Tag, an dem man sich einen Sonnenschirm und einen Liegestuhl aufgestellt und viele Stunden mit einem Buch verbracht hätte. Eine fast mediterrane Szenerie, wie sie sehr selten in Nordengland anzutreffen war, aber dann war sie von einem ganz besonderen Reiz.
Zögernd trat Jessica auf die Lichtung hinaus. Das Gras stand hoch, reichte ihr bis fast an die Knie. Jetzt, da sie genauer hinsah, erkannte sie, daß die vermeintliche Idylle bereits von den Anzeichen allerersten Verfalls getrübt wurde. Oder vielleicht eher von den Anzeichen erster Verwilderung. Aber zum Verfall wäre es dann nicht mehr weit. Sie hoffte, daß Leon rasch eine Entscheidung treffen würde, was Stanbury House betraf. Es durfte nicht einfach langsam zugrunde gehen, von Wildnis überwuchert und von den Naturgewalten Stück um Stück zerstört werden. Zerbrochene Fensterscheiben, bröckelnde Mauern, Gestrüpp, das in zerborstene Türen hineinwucherte. Sie konnte es fast vor sich sehen, und es stimmte sie unerwartet traurig.
Langsam durchquerte sie den Garten, näherte sich der Terrasse. Entlang der Balustrade standen die großen Terrakottatöpfe, die Patricia noch am letzten Tag ihres Lebens mit Fuchsien, Geranien und Margeriten bepflanzt hatte. Alle Blumen ließen traurig Köpfe und Blätter hängen, die Erde, in der sie wuchsen, sah staubtrocken aus. Es hatte wohl schon lange nicht mehr geregnet, und niemand kümmerte sich um sie. Einer plötzlichen Eingebung folgend, drehte sich Jessica um und ging in Richtung des kleinen Geräteschuppens, der sich auf der Westseite des Hauses befand. Dort gab es eine große Gießkanne, und sie wußte, daß sich am Kellereingang des
Hauses ein Wasserhahn befand. Sicher hatte niemand das Wasser abgestellt. Sie würde die armen Blumen ausgiebig gießen, und vielleicht würde es dann im Sommer wieder öfter regnen, und sie konnten bis zum Herbst überleben. Aus irgendeinem Grund war ihr dies auf einmal äußerst wichtig.
Als sie um die Ecke des Hauses bog, sah sie unweit des Geräteschuppens eine Gestalt im Gras sitzen, in der sie, nach der ersten Sekunde des Erschreckens und des Impulses, weglaufen zu wollen, Evelin erkannte. Sie runzelte die Stirn. Hatte Evelin, genau wie sie, das Bedürfnis gehabt, Stanbury House noch einmal zu sehen?
«Evelin?«rief sie halblaut.
Evelin wandte den Kopf. Sie schien nicht erschrocken, nicht einmal besonders überrascht.
«Ach, Jessica. Du mußtest wohl auch noch einmal Abschied nehmen?«
Jessica trat neben sie. Es sah idyllisch aus, wie Evelin dort inmitten der blühenden Gräser saß, beschattet von den Zweigen einiger alter Apfelbäume. Sie hielt einen Stapel Papiere in einer grünen Klarsichtfolie auf dem Schoß. Irgendeine vage Erinnerung löste der Anblick dieser Blätter in Jessicas Gehirn aus, aber sie kam nicht sofort darauf, worum es dabei ging.
«Bist du auch zu Fuß hier?«fragte sie.
Evelin schüttelte den Kopf.»Ich habe dein Leihauto genommen. Ist das schlimm? Der Schlüssel lag in deinem Zimmer auf dem Tisch. Eigentlich bin ich hineingegangen, um nach dir zu sehen, aber da du noch nicht zurück warst…«
«Das ist doch kein Problem. Natürlich konntest du das Auto nehmen. Ich bin sogar froh, denn jetzt kann ich mit dir ins Dorf zurückfahren.«
Jessica setzte sich ebenfalls ins Gras, streckte seufzend die Beine von sich.»Gott, ist das warm heute! Ich bin total kaputt.
Ich habe wieder einmal eine endlose Wanderung unternommen und meine Kondition ziemlich überschätzt.«
«Hast du Ricarda getroffen?«
«Die Mutter ihres Freundes war heute morgen bei mir und hat zugegeben, daß Ricarda seit gestern auf der Farm ist. Diesmal konnte sie sich vor mir nicht verstecken. Wir haben geredet, das heißt, in der Hauptsache habe ich geredet. Ihre eisige Distanz mir gegenüber will sie einfach nicht aufgeben. Aber ich bin jetzt viel ruhiger. Es geht ihr gut dort, wo sie ist. Sie hat einen Weg gefunden, auf dem sie die Schrecken vielleicht verarbeiten kann. Man sollte sie diesen Weg gehen lassen.«
«Ich freue mich für sie«, sagte Evelin.»Ich habe sie immer sehr gern gemocht.«
«Sie hat einen sehr sympathischen Mann gefunden. Das ist eine gute Voraussetzung für ein zufriedenes Leben.«
Evelin lächelte.»O ja. Das sollte man nicht unterschätzen.«
Jessica blickte hinauf in den Himmel. Er war von einem überirdischen Blau, und davor leuchteten in einem sehr hellen Grün die Blätter des Apfelbaums. Noch vor einem Monat war er voll schaumiger weißer Blüten gewesen.
Wie schön es ist, dachte Jessica, wie schön es ist, trotz allem, zu leben. Wie schön, daß wir am Leben geblieben sind.
«Wir werden es alle schaffen«, sagte sie,»du und ich, Ricarda und Leon… Wir vier Überlebenden, wir werden es schaffen. Wir werden nicht daran zerbrechen.«
«Glaubst du, es gibt für jeden von uns noch eine Chance?«fragte Evelin.
«Ich bin davon überzeugt. Es gibt immer noch eine Chance, wenn man nur bereit ist, sich nach ihr umzusehen. Wenn man einfach nicht klein beigibt.«
Sie sah Evelin an.»Weißt du, was du als nächstes tun willst?«
Evelin blickte ein wenig zaghaft drein.»Ich weiß nicht, ob es richtig ist Tim gegenüber, aber ich würde gern das Haus in München verkaufen. Ich habe mich darin nie wohl gefühlt. Ich möchte ein altes Haus, verwinkelt und unpraktisch, mit einem verwunschenen Garten. Und dann möchte ich wieder einen Hund, oder auch zwei Hunde.«
«Das finde ich eine wunderbare Idee«, sagte Jessica voller Wärme,»ein Hund ist jetzt genau das Richtige. Ich weiß, wovon ich spreche.«
Evelin schien erleichtert, daß ihr Plan, das Haus zu verkaufen, von Jessica offenbar nicht als Verrat empfunden wurde.»Ja«, sagte sie,»ich hätte mir damals nach dem Tod meines Hundes gleich wieder… aber Tim war dagegen, und… na ja«, sie zuckte mit den Schultern,»dann erfülle ich mir diesen Wunsch eben jetzt. Und weißt du, was? In dem Garten des Hauses, das ich kaufen werde, müssen unbedingt ein paar Apfelbäume stehen. So wie hier.«
«Ich werde dich ganz oft besuchen. Wenn ich darf.«
«Natürlich. Ich möchte nicht, daß unsere Freundschaft einfach zu Ende geht, Jessica. Es wäre schön, wenn wir uns weiterhin sehen könnten.«
«Ich möchte das auch, Evelin. Wir werden einander bestimmt nicht aus den Augen verlieren.«
Sie schwiegen beide eine Weile, gaben sich mit geschlossenen Augen der Wärme der Sonne und den Blütendüften des Gartens hin.
Jessica öffnete die Augen erst wieder, als eine dicke Biene um ihr Gesicht herumbrummte. Sie verjagte das Insekt und setzte sich aufrechter hin.
«Schreibst du einen Brief?«fragte sie mit einem Blick auf die Papiere, die in Evelins Schoß lagen.
Auch Evelin schlug die Augen auf.»Nein. Ich habe etwas gelesen.«
«Dann laß dich nicht stören. Ich…«
Aber Evelin schüttelte den Kopf.»Du störst mich kein bißchen. Ich wollte ohnehin mit dir über diese Aufzeichnungen sprechen.«
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