Er stand an genau derselben Stelle, an der er vier Wochen zuvor neben Evelin gestanden hatte. An der Stelle, von der aus er zuletzt einen Blick auf das Haus geworfen hatte. Alles war wie in seiner Erinnerung, nichts hatte sich geändert. Nur das Gras im Garten war hoch gewuchert, zu einer wilden Wiese war es geworden. Steve, der Gärtner, war sich wohl nicht mehr sicher, ob seine Dienste noch erwünscht waren, oder aber ihm war jede Ambition, dieses Grundstück zu betreten, ein für allemal vergangen.
Aber sonst — was hätte sich auch ändern sollen? Irgendwo hatte man vielleicht die irrationale Vorstellung, es müsse einem Haus anzusehen sein, wenn sich eine solche Tragödie zwischen und vor seinen Mauern ereignet hatte, aber natürlich schien es völlig unberührt von dem Geschehen. Friedlich lag es im Schein der Morgensonne, voller Ruhe und Harmonie. Er kannte jeden Schornstein, jedes Fensterkreuz, jede bröckelige Ecke an der Balustrade. Nichts war anders geworden.
Alles war anders geworden.
Er sah das Haus an mit einer tiefen inneren Verzweiflung, mit dem Schmerz eines Liebenden, eines Besessenen, der weiß, daß er das Objekt seiner Liebe, das Objekt seiner Besessenheit loslassen muß, wenn er nicht untergehen will. Er war hergekommen, um Abschied zu nehmen, und nun brach ihm dieser Abschied fast das Herz. Denn jenseits dessen, was er nun verlieren würde, lag das vollkommene Nichts, die absolute Sinnlosigkeit. Er hatte nicht die geringste Vorstellung, wie er damit leben würde können.
Der Morgen war so schön, wie nur ein Maimorgen sein kann, voller Klarheit und Frische und dem Versprechen auf einen wunderbar warmen, sonnigen Tag. Noch lag Feuchtigkeit über den Gräsern, und die Blätter der Bäume glänzten vom Tau, aber die Luft war bereits mild und der Himmel von einem tiefen Blau.
Jemand, dachte er, sollte durch die Tür auf die Veranda treten und einen Frühstückstisch dort decken, und dann sollte sich eine Familie dort versammeln, eine große, lebhafte Familie, und ein paar Hunde sollten herumspringen und laut bellen.
Es war ein eigenartig heftiger Wunsch in ihm, das Bild vor seinen Augen zu beleben, Haus und Garten mit Gesichtern und Stimmen zu füllen, und zugleich wußte er, daß ihm dies in der Wirklichkeit nie gelingen würde. Selbst wenn er eine Chance hätte, das Haus zu bekommen, oder man ihm zumindest das Recht würde einräumen müssen, dort zeitweise zu wohnen, würde er doch nicht fähig sein, eine Familie zu gründen und dort auf der Veranda zu sitzen und zu frühstücken und seine Frau und seine Kinder und seine Hunde zu betrachten und Pläne zu schmieden für den Tag. Er war nicht dafür geschaffen. Es würde ihm nicht gelingen, ganz gleich, wie sehr er es ersehnen mochte.
Und er würde auch seinem Vater nicht näherkommen. Sein Vater war tot. Sein Vater konnte ihm nichts mehr sagen. Die Wände seines Hauses würden nicht für ihn sprechen.
Er sah es auf einmal glasklar, sah sich selbst glasklar: einen langsam alternden Mann, einsam und verloren in einem großen Haus, auf der Suche nach einem Toten, während das Leben mit unnachsichtiger Unbeirrbarkeit ablief.
Was hatte diese Suche nach dem Toten schon mit ihm gemacht? Wozu hatte sie ihn verleitet? In welche Lage hatte sie ihn gebracht?
Er war so müde. So hungrig. Gehetzt, gejagt, in die Enge getrieben. Zu spät erkannte er, wie trügerisch der Sinn gewesen war, den er seinem Leben zu geben geglaubt hatte, als er seinen
Kampf um Kevin McGowan begann. Und obwohl als Täuschung entlarvt, würde ein schwarzes Loch dort bleiben, wo einst der Kampf geführt worden war. Ein Abgrund, vor dem ihm schauderte, und in den er doch blicken mußte, in den er würde hinabsteigen müssen. Denn dieser Abgrund war sein Leben.
Sein verpfuschtes, verkorkstes, zur Hälfte verstrichenes Leben. Und doch das einzige, das er hatte.
Er hatte als Schauspieler gearbeitet und dachte manchmal in den dramaturgisch angeordneten Sequenzen eines Theaterstücks oder Films, und er fand, dies war der Moment, in dem er laut Anweisung der Regie einen tiefen Zug aus seiner Zigarette nehmen, den Glimmstengel dann aus dem Mund ziehen, auf den Boden werfen und nachdrücklich austreten sollte. Ein letzter Blick zum Haus, umdrehen, gehen.
Er hatte bloß keine Zigarette. Er hatte buchstäblich überhaupt nichts mehr. Schon gar keinen Regisseur, der ihm hätte sagen können, wie es weitergehen sollte.
Vielleicht eine innere Stimme. Die ihm sagte, daß es das beste wäre, zur Polizei zu gehen und sich zu stellen. Oder auch nicht das beste, aber auf jeden Fall das einzige. Möglich, daß es keine Alternative gab. Und daß er deshalb hier stand und Abschied nahm, weil er das längst realisiert und sogar akzeptiert hatte.
Ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht bei der Vorstellung, wie er ins Dorf wandern, in den Gemischtwarenladen von Mrs. Collins' Schwester hineinspazieren und der alten Tratschtante in ihr schreckensstarres Gesicht sagen würde, sie möge bitte die Polizei herbeitelefonieren.
Nicht gleich. Nachher. Später.
Er überquerte den Rasen, langsam, ohne Hast. Setzte sich auf eine Bank, die seitlich vom Haus stand.
Vielleicht konnte er sich noch eine Weile der Illusion hingeben, irgendeine Wahl zu haben.
Jessica hatte schlecht geschlafen, und gegen halb sieben am Morgen hielt sie es nicht mehr im Bett aus. Sie stand auf, duschte und zog sich an und sah durch das Fenster, daß ein herrlicher Tag heraufdämmerte. Sie überlegte, ob sie Evelin wecken und zu einem gemeinsamen Spaziergang überreden sollte, aber auf einmal erschien es ihr zu anstrengend, sich zu so früher Stunde bereits in die Gesellschaft einer derart verzweifelten Frau zu begeben. Wer wußte, wie lange sie es überhaupt noch mit Evelin hier zusammen in Stanbury aushalten mußte. Der gestrige Abend war schwierig gewesen. Sie hatten zusammen im Gastraum gegessen, und Jessica hatte von Leon erzählt, von seiner neuen Wohnung, seinem neuen Arbeitsplatz. Daß er ihr seine Gefühle gestanden hatte, ließ sie unerwähnt. Aber ohnehin hatte sie nicht den Eindruck gehabt, daß Evelin mit mehr als minimalem Interesse zuhörte. Einoder zweimal hatte sie versucht, die Freundin auf die Zeit im Untersuchungsgefängnis anzusprechen, aber sie war sofort ausgewichen und hatte keine Antwort gegeben. Das sogenannte Gespräch war im Grunde nur auf einen zähen Smalltalk hinausgelaufen. Irgendwann waren sie beim Wetter und beim englischen Essen angelangt und hatten darüber hinaus nur ein bißchen über die plumpe Prudence gelästert, die hinter der Theke gestanden und ganz offensichtlich sehr heftig die Ohren gespitzt hatte.
Als sie über den Gang lief, kam sie an Evelins Zimmertür vorbei und lauschte kurz nach drinnen, konnte aber keinen Laut vernehmen. Erleichtert begab sie sich die Treppe hinunter in den Gastraum.
Sie war der erste Mensch dort, aber nach allem, was sie mitbekommen hatte, befand sich außer ihr und Evelin sowieso nur noch ein einziger Gast im Haus, ein älterer Herr, der immer in Wanderstiefeln und einem scheußlichen rotweiß karierten Hemd herumlief. Aber auch der schlief um diese Zeit wohl noch.
Nach einer Weile kam Prudence müde herangeschlurft und brachte heißen Kaffee, der Jessicas Lebensgeister sofort weckte.
«Was woll'n Sie denn frühstücken?«fragte sie und gähnte.
Jessica bestellte Toastbrot und Rührei, und Prudence schlich in die Küche zurück. Jessica trank ihren Kaffee in kleinen Schlucken, wärmte sich die Finger an der dickbauchigen Keramiktasse und überlegte, wie sie den Tag verbringen wollte. Auf jeden Fall würde sie eine schöne, lange Wanderung unternehmen. Die Frage war, ob sie es fertigbringen würde, Stanbury House aufzusuchen. Sie empfand es als eigenartig, sich in dieser ihr so vertrauten Gegend aufzuhalten und nicht ein einziges Mal zu dem alten Haus zu gehen, das trotz des Schreckens, der sich über seine Mauern gelegt hatte, ein Stück Heimat für sie gewesen war.
Читать дальше