«Aber du solltest…«
Ricardas Gesicht war voller Ungeduld.»Es ist mir egal. Die ganze Sache ist mir egal. Ich lebe ein anderes Leben.«
«Mit Keith?«
«Mit Keith. Wir werden zusammenbleiben.«
«Ich verstehe, daß dir das im Moment als die Lösung all deiner Probleme erscheint. Aber du solltest bedenken, daß du sehr jung bist, daß du in einer Krisensituation steckst und daß du weder einen Schulabschluß noch auch nur den Ansatz einer Ausbildung hast. Du begibst dich in eine völlige Abhängigkeit von diesem jungen Mann, und…«
«Entschuldige«, unterbrach Ricarda,»aber ich habe, ehrlich gesagt, keine Lust, mir irgendwelche Vorträge von dir anzuhören. Ich habe mein Leben, und du hast deines. Mein Vater war unser einziger Berührungspunkt. Er ist tot, und es gibt keinen Grund mehr, daß wir einander begegnen oder miteinander reden sollten.«
Jessica sah in das blasse, spitze Gesicht, in die dunklen Augen, die sie voller Kälte und Haß ansahen, und trotz allem war in ihr ein fast überwältigendes Gefühl von Zuneigung zu diesem trotzigen, ruppigen jungen Mädchen, das ein Teil von Alexander war und das ihr und sich das Leben so schwermachte, ohne vermutlich aus seinem Gefühlschaos heraus eine andere Wahl zu haben. Sie wäre gern auf Ricarda zugegangen und hätte sie in die Arme geschlossen, aber sie wußte, daß sie mit einer harten Zurückweisung zu rechnen hätte, und unterdrückte ihren Wunsch.
«Du mußt dich nicht gegen mich wehren«, sagte sie.»Ich will dich nicht von hier wegholen oder dir irgend etwas aufdrängen, das du nicht willst. Ich möchte nur, daß du weißt, du kannst immer zu mir kommen, wenn du Schwierigkeiten hast. Zu deiner Mutter sowieso. Und dann wollte ich dir nur einen Rat geben, und vielleicht solltest du über ihn nachdenken, auch wenn er von der verhaßten Stiefmutter stammt: Mach dich nicht abhängig von Keith. Setze ein Jahr mit der Schule und mit allem aus, lebe hier mit ihm, schau dir das Leben auf einer Schaffarm in Yorkshire an. Behalte dir die Möglichkeit vor, in einem oder zwei Jahren vielleicht doch noch einen Schulabschluß zu machen und einen Beruf zu erlernen. Danach heirate Keith, gründe eine Familie. Aber schaff dir erst eine eigenständige Position. Irgendwann wirst du erkennen, wie wichtig das ist.«
«Bist du fertig?«fragte Ricarda.
Jessica seufzte.»Ja.«
Sie machte eine hilflose Bewegung mit beiden Händen.»Ich denke, ich bin fertig. Das war alles, was ich dir sagen wollte.«
Ricarda erwiderte nichts. Jessica wartete noch einen Augenblick, aber es kam nichts mehr, und sie begriff, daß Ricarda nichts anderes wollte, als daß ihre Stiefmutter die Küche verließ und sich nicht länger in ihre Belange mischte.
«Leb wohl«, sagte sie, aber Ricarda antwortete nicht. Jessica drehte sich um und verließ die Küche. Sie eilte den düsteren
Gang entlang und atmete auf, als sie wieder draußen in der Sonne stand. Ricardas Kälte war so greifbar gewesen, daß sie plötzlich bis ins tiefste Innere fror. Sie bemühte sich, das Frösteln, das Gefühl von Beklemmung abzuschütteln, aber es mochte ihr nicht recht gelingen.
Wenn ich ein Stück laufe, wird es besser, dachte sie.
Keith und seine Mutter waren beide nicht zu sehen, und so verzichtete Jessica darauf, sich zu verabschieden. Sie rief in Elenas Büro an, erfuhr jedoch, daß sich Elena in einer Besprechung befand. Sie bat um Rückruf, verstaute ihr Handy dann wieder in der Handtasche. Sie blinzelte in die Sonne. Sie war müde und bedrückt, und sie dachte, daß Laufen wahrscheinlich wirklich die einzige Möglichkeit war, sich von dem Gefühl tiefster Niedergeschlagenheit zu befreien. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, daß es kurz vor halb neun war. Mittags, so hatte sie für Evelin hinterlassen, würde sie zurück sein.
Ihr blieb reichlich Zeit.
Sie setzte ihre Sonnenbrille auf und marschierte los.
Die steinerne Platte mochte sich nicht bewegen. Sosehr sie schob und zerrte, sie hatte sich um noch nicht einen Millimeter bewegt. Sie konnte doch nicht schwerer geworden sein in der Zeit, die seither verstrichen war? Oder war sie selbst schwächer?
Der Gestank war fürchterlich. Immer wieder drohte er ihr den Magen zu heben, mehr als einmal war sie dicht davor, sich zu übergeben. Die Wärme des Tages verschlimmerte alles. Wie hatte sie das damals ertragen?
Sie hielt einen Moment inne, richtete sich leise stöhnend auf, preßte die Hand ins schmerzende Kreuz. Ihr schwarzes Jeanshemd klebte am Körper und war völlig naßgeschwitzt. Einen Moment lang drohte Panik sie zu überwältigen, als sie daran dachte, daß es ihr vielleicht nicht gelingen würde. Daß sie aufgeben mußte. Daß sie es allein nicht schaffen würde.
Aber sie hatte es damals auch allein geschafft. Irgend etwas mußte sie anders gemacht haben.
Sie setzte sich ins Gras, atmete tief aus und ein, um sich zu beruhigen und Klarheit in ihre Gedanken zu bringen. Sie mußte überlegen. Ganz sicher gab es einen Weg.
Ein leichter, warmer Wind fächelte ein wenig Kühlung heran. Ein herrlicher, intensiver Blütenduft schwang darin mit.
Konnte es einen schöneren Tag als diesen geben?
Sie schloß die Augen.
Jessica merkte, daß sie ihre Kondition überschätzt hatte. Sie hätte den direkten Weg von der Farm zum Dorf einschlagen sollen, und selbst dann hätte die Wanderung sie erschöpft. Die Schwangerschaft machte sich bemerkbar, und hinzu kam, daß es inzwischen ein wirklich heißer Tag geworden war. Die Sonne stand jetzt hoch am Himmel, die feuchte Kühle des frühen Morgens hatte sich völlig aufgelöst.
Jessica war einen großen Bogen gelaufen und hatte den Ort aufgesucht, an dem sie Barney aus dem Wasser gefischt und Phillip Bowen zum erstenmal getroffen hatte. Zwischendurch hatte Elena zurückgerufen und tief erleichtert auf die Nachricht reagiert, daß sich Ricarda wohlbehalten auf Keith Mallorys Farm befand.
«Sie haben recht, ich werde vorläufig nichts unternehmen«, hatte sie gesagt.»Vielleicht kann ich irgendwann mit Ricarda telefonieren. Oder sie sogar besuchen. Ich bin so froh, daß es ihr gutgeht! Ich danke Ihnen, Jessica! Ich werde Ihnen das nie vergessen!«
Nun saß Jessica auf dem Hügel im Gras und blickte über das Tal zu ihren Füßen, sah den kleinen Wellen des eilig murmelnden Baches nach. Wie süß, wie sommerlich die Luft roch.
Ich liebe es, dachte sie fast erstaunt, ich liebe dieses Land. Diese Gegend. Die Wiesen, die Weite. Die Hochmoore in ihrer Kargheit, die blühenden Täler. Die Schafe. Die steinernen Mauern, die die Wiesen durchziehen. Die schmalen Straßen, an deren Rändern wilde Blumen wuchern. Die Dörfer aus grauem Stein. Trotz allem, was war, kann ich hier einen fast vollkommenen inneren Frieden finden.
Sie spürte etwas wie Neid, als sie an Ricarda dachte, die von nun an hier leben würde. Die mit dieser Natur verwachsen, ein Teil von ihr werden würde. Die sich durch die langen, kalten und oft schneereichen Winter kämpfen und den Frühling mit tiefer Sehnsucht begrüßen würde, die an Sommertagen wie diesem barfuß durch das leuchtend grüne Gras der Täler laufen und im Herbst den ersten rauhen Winden begegnen würde, die über die Hochebenen jagten. Wie unbeirrt sie ihren Weg gewählt hatte mit welch instinktiver Sicherheit sie gewußt hatte, was sie brauchte und wo sie ihre Heimat finden würde.
Ich wünschte, dachte Jessica, mein eigener Weg würde so klar vor mir liegen.
Sie sah auf die Uhr. Es war fast elf, ganz allmählich mußte sie aufbrechen. Plötzlich war eine eigenartige Unruhe in ihr, und als sie sie zu ergründen suchte, begriff sie, daß es der Gedanke, Stanbury House nicht noch einmal zu sehen, war, der sie quälte. Und daß sie hierher, an diese Stelle, gekommen war, weil sie eigentlich zu dem alten Haus gewollt, es sich aber nicht zugetraut hatte. Es wäre unmöglich für sie gewesen, direkt zum Dorf zu gehen.
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