Aber damit, stellte Jensen aufatmend fest, war es jetzt vorbei. Endgültig. Vom heutigen Tage an würde ein anderes Leben beginnen, weitaus besser als dasjenige, mit dem er für immer abgeschlossen hatte.
Völlig durchnässt, müde bis zum Umfallen und in Gedanken ausschließlich mit sich und seiner Zukunft beschäftigt, hatte Ole Jensen die Schritte, die sich vom Ufer aus näherten, nicht bemerkt, nicht einmal, als der hochgewachsene, mindestens ebenso abgekämpft und ausgelaugt wirkende Mann um die 40 direkt neben ihm stand, einen Glimmstängel ansteckte und sein Aroma mit sichtlicher Erleichterung genoss.
»Ole Jensen, wenn ich mich nicht irre?«, fragte er geraume Zeit später, als seine Lucky Strike beinahe zu Ende geraucht war. »Tom Sydow – Kripo Berlin. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, hätte ich ein paar Fragen an Sie.«
34
Lubjanka in Moskau | 15.40 h Berliner Zeit
»Das war Andrej Antonowitsch«, sagte Lawrenti Berija, und er sagte es so, als seien die Erfolgsmeldungen, die ihm gerade übermittelt worden waren, im Grunde zu erwarten gewesen. Das wiederum war beileibe nicht der Fall, woran Georgi Malenkow, Erster Sekretär des ZK der KPdSU, keinen Anstoß nahm. Der 51-jährige, leicht übergewichtige und während der Stalin-Ära zu Amt und Würden gelangte Karrierist gab sich betont lässig, wenngleich er seinem Erzrivalen, aussichtsreichster Kandidat im Ringen um die Position des ersten Mannes im Staat, zutiefst misstraute und ihn nicht zu Unrecht verdächtigte, nach der alleinigen Macht zu streben. »Sieht so aus, als bekäme er die Lage in Ostberlin allmählich in den Griff.«
»Bleibt die Frage, ob wir uns darüber freuen sollen oder nicht«, sinnierte Malenkow und nippte an seinem Tee.
»Gretschko[37] hat richtig gehandelt, was denn sonst!«, empörte sich Berija, drei Jahre älter, von Geburt Georgier und nach Stalins Tod vor mehr als drei Monaten der meist gefürchtete Mann im Land. Ein Prädikat, das er seiner Funktion als Geheimdienstchef und dem Ruf verdankte, der bei Weitem rücksichtsloseste Scherge des verstorbenen Diktators gewesen zu sein. »Wo kämen wir da hin, wenn wir eine Rotte hergelaufener Konterrevolutionäre einfach gewähren lassen würden.«
Am Fenster postiert, von wo aus er einen ungestörten Blick auf den Lubjanka-Platz und die Bronzestatue von Felix Dserschinski[38] genoss, zog es Malenkow vor, auf die martialischen Anwandlungen des kahlköpfigen Kaukasiers zunächst nicht zu reagieren. Stattdessen leerte er sein Glas, stellte es ab und wandte sich dem Porträt zu, das am Kopfende des schmucklosen Sitzungssaales hing. Noch war es nicht so weit, dass es irgendjemand, er selbst mit eingeschlossen, gewagt hätte, Stalins Konterfei zu entfernen. Dazu war die Erinnerung an den Woschd[39] noch zu lebendig, die Schrecken, Ränkespiele und tödlichen Intrigen der Vergangenheit viel zu präsent, als dass man sie einfach hätte ignorieren und anschließend zur Tagesordnung übergehen können. »Genau, Genosse Berija, wo kämen wir da hin.«
»Ich muss schon sagen, Genosse Malenkow«, wunderte sich Berija, und bettete den Hinterkopf auf die mit einer Spitzendecke drapierte Lehne des Ledersessels, in dem er es sich gerade bequem gemacht hatte, »für meine Begriffe lässt Ihr patriotischer Elan einiges zu wünschen übrig.«
»Der Ihrige, Lawrenti Pawlowitsch, dafür umso weniger.«
»Wie schön, dass wir wenigstens diesbezüglich der gleichen Meinung sind«, konterte Berija geschickt, schob die randlose Brille nach unten und schärfte dem ungeliebten Verbündeten mit gestrenger Miene ein: »Sie wissen doch, Georgi Maximilianowitsch – nur dann, wenn wir beide uns einig sind, wird es uns gelingen, diesen Bauerntrampel namens Chruschtschow von der Macht fernzu…«
Ein neuerliches Schrillen des Telefons, bei dessen Klang Berija erschrocken zusammenfuhr, machte dem Gespräch vorläufig ein Ende. Berija nahm ab, meldete sich, lauschte angestrengt und erblasste. »Abgestürzt?«, ächzte er, wobei sein Blick wie zufällig an dem Porträt seines politischen Ziehvaters haften blieb. »Und wo, Valentin Sergejewitsch?« Außerstande, die offensichtliche Hiobsbotschaft zu verdauen, saß Berija stocksteif auf seinem Sessel und hörte dem Anrufer mit wachsender Bestürzung zu. Ein Mann, der so gut wie nie seine Gefühle zeigte, ließ sich Berija zu einem lauten und vernehmlichen »Dermo!«[40] hinreißen, worauf Malenkow mit ostentativem Gleichmut reagierte.
»Schlechte Nachrichten?«, fragte der ZK-Sekretär nach, als Berija den Hörer wutentbrannt auf die Gabel geschleudert hatte.
»›Schlecht‹ ist gar kein Ausdruck!«, fuhr Berija seinen Gesprächspartner an, nicht ahnend, dass dieser demnächst die Fronten wechseln und er, Berija, nur noch neun Tage zu leben haben würde. »Die Operation Puschkin, so scheint es, ist endgültig gescheitert. Was nichts anderes bedeutet, als dass wir das Bernsteinzimmer endgültig abschreiben können.«
»Und damit den Prestigegewinn, den wir beide uns von seiner Entdeckung erhofft hatten«, vollendete Malenkow, zog den Vorhang zu und begab sich zur Tür. »Vielleicht doch keine so gute Idee, Kontakte zu knüpfen, die einem unter Umständen zum Verhängnis werden könnten.«
»Was hätte ich sonst machen sollen, Malenkow – einen meiner Agenten mit dem Auftrag betrauen? Sie wissen ebenso gut wie ich, dass Chruschtschow mittlerweile überallhin seine Spitzel lanciert hat. Inzwischen sind wir so weit, dass ich mich nicht einmal mehr auf meine eigenen Leute verlassen kann. Die kleinste Indiskretion, und die Sache wäre aufgeflogen. Und was dann, können Sie mir das vielleicht verraten? Was, wenn Chruschtschow davon erfahren hätte? Dann wären wir bis auf die Knochen blamiert gewesen.«
»Ich fürchte, Lawrenti Pawlowitsch«, entgegnete Malenkow, nahm seinen Hut vom Haken und öffnete die Tür, »ich fürchte, das sind wir sowieso.« Nur um etliche Sekunden später, nachdem sich die Tür bereits hinter ihm geschlossen hatte, hinzuzufügen: »Beziehungsweise Sie, Lawrenti Pawlowitsch – dafür werde ich schon sorgen.«
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Berlin-Zehlendorf, Waldfriedhof | 17.42 h
»Alter: 33, geboren in Dresden, aus gutem – will scherzhafterweise sagen, arischem – Hause, Besuch des dortigen Gymnasiums, Abitur, Studium der Ingenieurswissenschaften mit Schwerpunkt Bergbau, vom Wehrdienst freigestellt, danach, kurz nach Beginn des Russlandfeldzuges, Eintritt in die SS. Ob zwangsweise oder aus freien Stücken, lässt sich im Nachhinein nicht mehr feststellen. Sei’s drum. Kurz vor Kriegsende die Rekrutierung für ein streng geheimes Kommandounternehmen mit dem Decknamen Alberich – was sich dahinter verbirgt, ist uns ja inzwischen bekannt.«
Wie immer, wenn es um Recherchearbeit ging, hatte Eduard Krokowski seine Sache ausgesprochen gut gemacht, hatte das, was er im Document Center in Erfahrung gebracht und Sydow soeben ins Ohr geflüstert hatte, Hand und Fuß. In Ermangelung eines Pfarrers beziehungsweise einer Grabrede muteten seine Worte jedoch ausgesprochen makaber an, und Sydow war kurz davor, dem Übereifer seines Assistenten einen Dämpfer zu verpassen. Aber dann, im Anschluss an Krokowskis Rapport, begannen beide Totengräber bereits damit, den Sarg in die Grube hinabzulassen, und so kam er ungeschoren davon.
Es war eine zutiefst bedrückende Szenerie, die sich Sydow bot, und wären Peters, Krokowski und Jensen nicht zur Stelle gewesen, der es sich nicht hatte nehmen lassen, seinem Kameraden das letzte Geleit zu geben, wäre sie noch viel bedrückender gewesen. Die Nachrichten aus Ostberlin trugen das Ihrige zu seiner düsteren Stimmung bei, und der Ort, an dem er sich befand, gab ihm den Rest. Die Stille und der Geruch nach Lehm, feuchtem Laub und morschem Holz waren kaum zu ertragen, selbst das Abendrot und die von der Gewitterschwüle gereinigte Luft kamen dagegen nicht an.
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