»Ich denke, es ist das Beste, Genosse, wenn Sie einen kurzen Blick auf die Rückseite werfen«, erwiderte Rembrandt kühl. »Damit es zwischen uns beiden nicht zu Missverständnissen kommt.«
Keineswegs besänftigt, kniff Slavín die Augen zusammen und stierte den Mann, von dem der Erfolg seiner Mission abhing, mit hasserfüllter Miene an. Er misstraute ihm zutiefst, mehr als allen Ganoven zusammen, mit denen er im Auftrag von Besuchow zu tun gehabt hatte. Trotzdem führte kein Weg an ihm vorbei, es sei denn, er würde ihn auf der Stelle ins Jenseits befördern. Unter den gegebenen Umständen kam dies leider nicht infrage, hatte er es doch mit einem der besten Stasi-Agenten zu tun, die es gab. Dass er nicht allein, sondern in Begleitung war, machte die Sache nicht einfacher, weshalb sich Slavín entschloss, sein hitziges Temperament zu zügeln.
»Na, habe ich Ihnen etwa zu viel versprochen?«, tönte Rembrandt, wechselte einen kurzen Blick mit Jensen und ließ die Umgebung des Jachthafens, den Slavín als Treffpunkt vorgeschlagen hatte, nicht aus den Augen. Der Wind hatte stark aufgefrischt und die Masten der Segelboote, die ringsum vertäut waren, bedrohlich zur Seite kippen lassen. Die Luft, feuchtwarm, stickig und schwül, roch nach Unwetter, und bis auf ein Motorboot, das gegen den Wellengang auf der Havel ankämpfte, war nichts Verdächtiges zu sehen. Trotzdem oder gerade deswegen hatte Rembrandt ein ungutes Gefühl. Slavín, der ihn über den Rand der Karte hinweg taxierte, war nun einmal nicht vertrauenswürdig, dafür kannte er ihn einfach zu gut.
»Und wer sagt mir, dass ich mich auf Sie verlassen kann?«, argwöhnte Slavín, nachdem er die Orts- und Positionsangaben auf der Rückseite studiert hatte. »Wer sagt mir, dass sich das Bernsteinzimmer auch wirklich in diesem thüringischen Kaff befindet und nicht irgendwo anders, womöglich sogar im Westen? Oder am Ende in Königsberg?«
»Ich.«
Slavín stutzte, und als sein Blick auf Jensen traf, geriet die unversehrte Hälfte seines Gesichts in Bewegung. Die linke, starr, rötlich und entstellt, mutete wie eine Teufelsfratze an, wovon sich sein Gegenüber freilich nicht irritieren ließ.
»›Ich?‹«, höhnte er. »Was soll das heißen?«
»Gestatten: Jensen«, stellte sich der baumlange Friese vor, der es bislang vermieden hatte, im Zwist zwischen Slavín und Rembrandt das Wort zu ergreifen. Er betrat den Bootssteg, an dessen Ende die beiden einander gegenüberstanden, und betonte: » Ole Jensen.«
»Wer, zum Teufel, sind Sie?«
»Der Mann, der den Eingang zum Stollen, dessen Planskizze Sie gerade in Händen halten, vor etwas mehr als acht Jahren in die Luft gejagt hat.«
»SS?«
»Sie haben es erfasst, Genosse«, trumpfte Jensen auf, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. »Wie im Übrigen auch mein Kamerad, SS-Obersturmbannführer Curt Holländer.«
»Sieh an, davon habe ich nichts gewusst. Hätten Sie mir ruhig beichten können, Holländer. Ein SS-Offizier bei der Stasi – wie schade, dass Genosse Stalin das nicht mehr erleben durfte.«
»Möge er in Frieden ruhen.«
»Treffend formuliert.« Von Natur aus argwöhnisch, justierte Slavín seine Augenklappe und fuhr sich durch das rötliche, wie stets auf den Millimeter genau zurechtgestutzte Haar. Sein intaktes Auge, giftgrün schimmernd und auf einen unsichtbaren Punkt fixiert, der sich irgendwo im Inneren von Jensens Schädel zu befinden schien, funkelte und blitzte, doch der Effekt, den er erhofft hatte, blieb aus. »Feine Gesellschaft, in die ich da geraten bin«, schnaubte er, sah zuerst Holländer, darauf wieder Jensen an und schien fürs Erste zufrieden. »Höchste Zeit, Nägel mit Köpfen zu machen, meine Herren!«
»Eine Million. Und keinen Cent weniger.«
»Warum so nervös, Holländer?«, machte sich Slavín einen Spaß daraus, sein Gegenüber bis aufs Blut zu reizen, faltete die Karte zusammen und ließ sie in seinem Jackett verschwinden, unter dem sich seine schusssichere Weste abzeichnete. Dann sprang er auf das Achterdeck der Motorjacht, die neben ihm vertäut war, verschwand unter Deck und kehrte kurz darauf mit einem Aktenkoffer zurück, den er Holländer mit breitem Grinsen überreichte. »Hier – die versprochene Belohnung.«
Der ließ es sich nicht nehmen, einen Blick ins Innere zu werfen, worauf sich seine Miene spürbar aufhellte. »Freut mich, dass unsere Bemühungen zu einem glücklichen Ende gelangt sind«, verkündete er, triefend vor Ironie, vermied es allerdings, Slavín die Hand zu schütteln, was dieser mit einem maliziösen Augenaufschlag quittierte. »Bleibt mir nur noch, mich von Ihnen zu verabschieden.«
»Doswidanja, Genosse«, erwiderte Slavín, schob seine Prothese nach vorn und griff zu. »Und noch viel Spaß mit dem Geld.«
»Doswidanja«, echote Rembrandt und entwand sich Slavíns Griff, bemüht, sich seine Antipathie nicht anmerken zu lassen. »Bis zum nächsten Mal.«
»Ich fürchte, ein nächstes Mal wird es nicht geben«, versetzte sein ungewöhnlich heiter gestimmter Gegenpart, begab sich hinter das Steuer seiner Jacht und ließ den Motor laut aufheulen. Dann gab er Vollgas, vollführte eine weite scharfe Rechtskurve und raste in Richtung Pfaueninsel davon, während die Gischt mehrere Meter in die Höhe schoss.
Gerade einmal zehn Sekunden vergingen, und er wurde von dem Regenschleier, der über der Havel niederging, verschluckt.
»Na, das wär’s dann wohl gewesen«, sprach Ole Jensen und sah den ehemaligen Kriegskameraden, dessen Blick die Umgebung absuchte, auffordernd an. »Höchste Zeit, sich auf die Socken zu machen. was, Holländer?«
»Ich schon, Ole«, triumphierte Rembrandt, ein Lächeln im Gesicht, das sein Gegenüber prompt erwiderte. »Was dich betrifft, wäre ich mir da nicht so sicher.«
»Und weshalb nicht, Kamerad?«
»Deswegen!«, fuhr Rembrandt den Fragesteller an, den Geldkoffer in der linken, seine Tokarew, mit der er auf Jensens Brustkorb zielte, in der ausgestreckten rechten Hand. »Tut mir leid, Ole – aber mit Kameraden zu teilen ist nun mal keine Stärke von mir.«
»Klar, hast dich ja schließlich darauf spezialisiert, sie aus dem Weg zu räumen«, erwiderte Jensen, verschränkte die Arme vor der Brust und verzog keine Miene. Sein eisgraues Haar, das der aufkommende Wind völlig zerzaust hatte, ließ ihn noch hagerer erscheinen als sonst. »Oder sehe ich das etwa falsch?«
»Keineswegs«, stimmte ihm Rembrandt im Bewusstsein, dass sein schärfster Widersacher bald mundtot gemacht sein würde, hohnlächelnd zu. Dann richtete er die Mündung der Tokarew auf Jensens Stirn, blinzelte ihn an – und drückte ab.
Wieder und wieder, so lange, bis er begriffen hatte, dass sich keine Munition in ihr befand.
Jensen, zwischen Verachtung und Genugtuung schwankend, sah seelenruhig zu. »Wie sagtest du doch gleich, Kamerad –«, amüsierte er sich, »›schön blöd, wenn man sich eine Knarre mit leerem Magazin andrehen lässt!‹ Willkommen im Klub. Schon vergessen, dass du sie mir vorhin am Checkpoint Bravo in die Hand gedrückt hast? Verständlich, musstest dich ja schließlich ganz aufs Fahren konzentrieren.«
»So war das nicht gemeint, Jensen, lass uns noch mal in Ruhe über alles reden, dann …«
Weiter kam Rembrandt nicht, da Jensens Wehrmachtsdolch die linke Herzkammer durchbohrte. Rembrandt stand da wie versteinert, die Tokarew nach wie vor in der ausgestreckten Hand. Sekunden später, als Jensen sein Werk längst vollendet hatte, erschlaffte seine Linke, und der Koffer prallte mit einem dumpfen Schlag auf den Eichenbohlen der Anlegestelle auf. Steif wie eine Salzsäule, beschrieb Rembrandt einen Halbkreis, geriet ins Taumeln und stolperte mit ausgestreckten Armen auf das Ende des Bootssteges zu. Das einzige Geräusch, das dabei erklang, war der unstete Tritt seiner Stiefel, vermischt mit dem Heulen des Windes, der so böig war, dass er seinen Aufprall auf dem Wasser beinahe übertönte.
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