»Mit einem Wort: ein ganz Fanatischer.«
»Treffend formuliert, Herr Kriminalhauptkommissar«, scherzte Lea von Oertzen, nicht etwa in Schwarz, sondern mit einem cremefarbenen Kostüm samt hautenger Bluse bekleidet. »Einen geeigneteren Mann hätte Himmler für dieses Himmelfahrtskommando nicht finden können.«
»Himmelfahrtskommando?«
»Lass gut sein, Tom Sydow – deswegen bist du doch hier, oder?«
»Sagen wir’s mal so – deswegen bin ich hergekommen.«
»Wie dem auch sei –«, wich Sydows Gesprächspartnerin rasch aus, »der Auftrag Himmlers, das Bernsteinzimmer beiseitezuschaffen, kam ihm anscheinend wie gerufen. Man stelle sich das einmal vor: Das Tausendjährige Reich liegt in Trümmern, und Hans-Hinrich hat nichts Besseres zu tun, als für Himmler die Kastanien aus dem Feuer zu holen.«
»Heißt das, er hat seinen Auftrag erledigt?«
Ein Schatten legte sich über Lea von Oertzens Gesicht. »Hat er, Tom, hat er. Mein Gatte und drei weitere Mitglieder eines Sonderkommandos der SS.«
»Unbemerkt?«
»So gut wie. Ein paar Wochen amerikanische Gefangenschaft, und das war’s dann auch schon. Der Krieg war noch nicht richtig vorbei, da befand er sich wieder auf freiem Fuß.«
»Wie das?«
»Anscheinend hat er den Yankees weismachen können, er sei nur eine subalterne Charge gewesen. Und das trotz Blutgruppentätowierung. Sei’s drum. Nach dem Krieg hat er rasch wieder Fuß fassen können, zuerst als Immobilienmakler, später in der Politik. Vor knapp zwei Jahren, genauer gesagt im September 1951, ist er dann von Lüneburg nach Berlin versetzt worden.« Lea von Oertzen atmete tief durch. »So, und jetzt weißt du alles, Tom – wie wär’s, wenn wir beide noch eine Tasse Kaffee …«
»Danke, Lea, vielleicht später.«
Im Begriff, wieder Platz zu nehmen, horchte die Hausherrin auf und sah Sydow prüfend an.
»Nimm es mir nicht übel, Lea, aber ich muss unbedingt wissen, wer …«
»… der Kerl war, der diese Ruchlosigkeit begangen hat?«
Sydow wich ihrem Blick aus und lief rot an. »Genau.«
»Ich habe Angst, Tom. Um mich und Veronika. Kannst du das nicht verstehen?«
»Solange ich da bin, Lea«, flüsterte Sydow und erkannte sich selbst nicht wieder, »brauchst du vor nichts und niemandem auf der Welt Angst zu haben.«
»Ich weiß, Tom, ich weiß.« Auge in Auge mit dem übernächtigten, unrasierten und linkisch wirkenden Kripo-Beamten, in dessen Gegenwart sich ihre Ängste in Nichts auflösten, stieß Lea von Oertzen einen leisen Seufzer aus, lächelte und sagte: »Also gut, Tom – dann nehme ich dich beim Wort.« Und fügte mit kaum hörbarer Stimme hinzu: »Er heißt Holländer, Tom, SS-Obersturmbannführer Curt Holländer, er ist vergangenen Donnerstag hier aufgetaucht und hat damit gedroht, Veronika und ich würden den nächsten Tag nicht erleben, falls wir nicht bereit seien, mit ihm zu kooperieren.« Lea von Oertzens Miene verhärtete sich. »Kooperieren – genau so hat er sich ausgedrückt. Pech für ihn, dass Hans-Hinrich darauf gedrungen hat, sein Geheimnis mit ins Grab zu nehmen.«
»Ein Fragment der Karte, auf der das Versteck des Bernsteinzimmers verzeichnet ist?«
»Richtig. Keine Ahnung, ob ich richtig gehandelt habe oder nicht – aber ich habe es nicht fertiggebracht, seinen letzten Wunsch zu ignorieren.«
»Und dieser Holländer?«
»Glaubt mir nicht, beschimpft mich, stößt finstere Drohungen aus, unter anderem, Veronika könne etwas zustoßen. Die Stasi sei auf derlei Fälle spezialisiert, ließ er mich wissen.« Lea von Oertzen besann sich und sah Sydow besorgt an. »Sieht so aus, als schrecke dieser Holländer vor nichts zurück.«
»Da muss ich dir recht geben, Lea. Fragt sich nur, was dieses Dreckschwein noch alles in petto hat.«
»Ganz gleich, was er vorhat, Tom – gegenüber dem Helden meiner Teenagerjahre wird er das Nachsehen haben. Jede Wette.«
Sydow errötete bis in die Haarspitzen. »Was macht dich so sicher, Lea?«
»Ganz einfach. Ich weiß, wo sich das Zimmer befindet.«
Sydow glaubte, er habe nicht richtig gehört. »Du weißt …«, stammelte er, irritiert wie selten zuvor, »du weißt was?«
Die Augen seiner Gesprächspartnerin sprühten nur so vor Belustigung. »Du hast richtig gehört, Junker von Sydow. Bevor ich das Geheimnis lüfte, bist jedoch erstmal du an der Reihe. Beziehungsweise die Verletzung, die du die ganze Zeit über so mannhaft zu kaschieren versucht hast. Der linke Oberschenkel, hab ich recht? Keine Widerrede, Tom – so viel Zeit muss einfach …«
Sydow war dermaßen durcheinander, dass er das Läuten des Telefons beinahe überhört hätte. Erst als ihm die Hausherrin einen Wink gab, drehte er sich um und humpelte an den Apparat.
»Für dich, Tom – ein gewisser Herr Krokowski.«
»Sydow hier, was gibt’s?« Kaum hielt er den Hörer am Ohr, fiel Sydow aus allen Wolken. Sein Atem beschleunigte sich, und obwohl er es besser wusste, beschlich ihn das Gefühl, Krokowski erlaube sich einen Scherz mit ihm. »Kuragin?«, keuchte er und warf einen hastigen Blick auf die Uhr. »Und wann?« Mit jeder Sekunde, die verstrich, eine Idee bleicher im Gesicht, hörte Sydow gebannt zu. »Und wo? In Ordnung – schick mir einen Streifenwagen her, und zwar schnell. Alarmstufe eins, na klar. Alle verfügbaren Kräfte zusammenziehen, ohne Rücksicht auf Dienstschluss oder sonstige Wehwehchen. Ich verlasse mich auf dich, hörst du? Bis später, Eduard. Ende!«
»Irgendetwas nicht in Ordnung?«
»Erzähl ich dir später, Lea«, vertröstete Sydow von Oertzens Frau, von der er sich nur mit Mühe losreißen konnte, legte auf und begab sich eilig zur Tür. Dort wiederum drehte er sich um und fragte: »Wenn wir gerade dabei sind, Lea, schon mal etwas von einem gewissen Ole Jensen gehört?«
Die Angesprochene nickte. »Einer der vier Musketiere – wieso?«
Sydows Miene verfinsterte sich. »Gut möglich, dass ich demnächst die Klingen mit ihm kreuzen werde. Und damit ich nicht aus der Übung komme, knöpfe ich mir anschließend seinen Gefährten vor.«
»D’Artagnan?«
»An dir ist eine Kriminalistin verloren gegangen!«, rief Sydow aus, strich der Jugendliebe, die keine mehr war, über die Wange und wandte sich zum Gehen.
Ostseegold
Berlin / Moskau
(17.06.1953)
›Auch alle weiteren bis dahin ausgewerteten Dokumente sprachen eine deutliche Sprache – das Bernsteinzimmer war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bis zum Untergang der Stadt in Königsberg verblieben.‹
Maurice Philip Remy: Mythos Bernsteinzimmer . München 2003, S. 196.
›Je länger das Kunstwerk in Königsberg aufbewahrt wurde, desto unwahrscheinlicher ist es, dass einem deutschen Spezialkommando ein längerer Transport gen Westen gelingen konnte, ohne von den Truppen der Roten Armee aufgehalten zu werden. Vieles spricht dafür, dass der verlorene Schatz irgendwo zwischen Königsberg und der Ostsee sein geheimes Versteck gefunden hat. Möglich, dass – sollte es jemals gefunden werden nichts als verfaultes Holz und ein riesiges Puzzle losgelöster Bernsteinplättchen übriggeblieben sind. Sollte da die Welt mit ihrer Fantasie und dem Mythos des verschwundenen achten Weltwunders weiterleben?‹
Hans-Christian Huf (Hrsg.): Sphinx – Geheimnisse der Geschichte . Bergisch Gladbach 1994, S. 279.
33
Berlin-Gatow, Jachthafen | 15.05 h
»Sehe ich das richtig, Holländer –«, giftete Slavín und machte sich nicht die Mühe, seinen Groll vor Rembrandt zu verbergen, »Sie halten mich für so dämlich, dass ich Kopf und Kragen riskiere und mir eine Karte andrehen lasse, mit der ich nichts anfangen kann? Zum Spottpreis von einer Million Dollar? Denken Sie vielleicht, ich sei übergeschnappt?«
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