Etliche Minuten danach, als der Leichnam Rembrandts bereits von der Strömung erfasst und hinaus auf die stürmische Havel getrieben worden war, stand Ole Jensen weiterhin an der Stelle, wo er das Leben seines Widersachers ausgelöscht hatte. Sein Blick ging hinüber zum Grunewald, und es dauerte seine Zeit, bis er seine Gedanken geordnet hatte.
Zu guter Letzt, mit dem Gefühl, das einzig Richtige zu tun, griff Ole Jensen nach dem Koffer, holte weit aus und schleuderte ihn in die aufgewühlten Fluten der Havel.
*
In Sichtweite der Glienicker Brücke drosselte Slavín das Tempo und bog nach Steuerbord. Keine Spur von amerikanischen oder sowjetischen Posten und Grenzpatrouillen, nur allzu verständlich angesichts des Wolkenbruchs, der sich über ihm entlud. An seiner Stimmung, die ans Überhebliche grenzte, änderte dies kaum etwas. Alles lief nach Plan, und nichts, aber auch rein gar nichts deutete darauf hin, dass sich dies in nächster Zeit ändern würde.
Eine Einschätzung, die beim Auftauchen des Flugbootes vom Typ Berijew R-1, dem Stolz seiner sowjetischen Konstrukteure, weiter genährt wurde. Es war das erste mit Strahltriebwerken ausgestattete Flugboot der Welt, fast 800 Stundenkilometer schnell und der Konkurrenz aus den USA haushoch überlegen. Seine Reichweite betrug 2.000 Kilometer, mehr als genug, um es bis nach Odessa zu schaffen, wo er auf der Stelle untertauchen, sich mithilfe diverser Kontakte und seiner märchenhaften Beute eine neue Identität zulegen und anschließend von der Bildfläche verschwinden würde. Slavín lachte zufrieden in sich hinein. Mit einer Million Dollar im Gepäck wird es sich bestimmt gut leben lassen!, frohlockte er im Stillen,, und während das Flugboot circa einen halben Kilometer entfernt von ihm auf dem Jungfernsee aufsetzte, wurde der ehemalige NKWD-Offizier, dem Gefühlsregungen an sich suspekt waren, von überbordender Euphorie gepackt. Ein paar Minuten noch und er hätte für alle Zeiten ausgesorgt. Dann endlich würde er ein Leben führen, wie er es sich immer gewünscht hatte, aller Sorgen und eines gewissen Besuchow, der vermutlich vor Wut schäumen würde, ein für alle Mal ledig. Dafür würde allein die Karte mit dem Versteck des Bernsteinzimmers sorgen, aus der er zu gegebener Zeit Kapital zu schlagen gedachte.
Im Begriff, zwischen Stützschimmer und Rumpf hindurchzunavigieren, vergewisserte sich Slavín, ob sich die Frucht seiner Bemühungen auch wirklich in seinem Jackett befand. Anschließend nahm er das Gas zurück und wartete, bis sich die Motorjacht auf gleicher Höhe mit der Einstiegsluke des Flugzeugs befand. Dann warf er seinen mit einem Sicherheitsschloss versehenen Aktenkoffer in den Frachtraum und kletterte behände an Bord. Für die fast acht Meter lange, gut und gerne 100.000 Dollar teure Luxusjacht hatte er nicht einmal einen Blick übrig, schloss die Luke, nahm seinen Koffer an sich und begab sich zum Bug.
»Na, Slavín – wie steht’s?«, fragte der kleinwüchsige Georgier, Kontaktmann, Pilot und Logistiker in einer Person, als Slavín die Cockpittür öffnete und sich auf dem Platz des Kopiloten breitmachte. »Sieht so aus, als hättest du Erfolg gehabt.«
»Kann man so sagen«, beantwortete der Angesprochene die Frage, auf die er bei anderer Gelegenheit höchst unwirsch reagiert hätte. »Grund genug, mal wieder ordentlich einen zu heben, findest du nicht auch, Sasa?«
»An mir soll’s nicht liegen, Wassili«, lachte der schmuddelig gekleidete Pilot, der kaum über das Armaturenbrett hinausreichte, und ließ den Blick über die Instrumententafel gleiten. »Dann wollen wir mal, oder?«
»Einen Augenblick, so eilig haben wir es nun auch wieder nicht«, dämpfte Slavín den Eifer seines Nebenmannes, warf einen Blick aus dem Fenster und zog ein mit Antenne, diversen Schaltern und Blinklampen versehenes Gerät aus der Tasche, nur knapp doppelt so groß wie eine Streichholzschachtel, jedoch ungleich effektiver. »Ab geht die Post.«
»Nichts lieber als das«, antwortete der Georgier, fuhr die Triebwerke hoch und beschleunigte auf über 200 Stundenkilometer, wobei die heftige Detonation, welche die Segeljacht unmittelbar nach dem Start der Berijew R-1 in tausend Stücke riss, bei ihm allenfalls für ein müdes Grinsen sorgte. »Damit du rechtzeitig wieder zu Hause bist.«
»Dürfte nicht allzu schwierig …«, begann Slavín, brach allerdings mitten im Satz ab und erstarrte.
»An Ihrer Stelle, Towarischtsch, wäre ich mir da nicht so sicher.« Die Mündung der Tokarew, die Slavín an seiner Schläfe spürte, sprach eine klare Sprache, zu eindeutig, als dass er Gegenwehr geleistet hätte. Er war überrumpelt worden, kaum imstande, klar zu denken. »Es sei denn, Sie ziehen es vor, die Realität zu ignorieren. Wovon ich Ihnen allerdings dringend abraten würde. Wenn ich Sie wäre, Slavín, würde ich mich fragen, ob es nicht besser wäre zu kooperieren.«
»Kooperieren? Und wieso?«
»Weil Sie am Ende sind, Genosse Geldeintreiber – auf die Gefahr hin, Ihnen die letzten Illusionen rauben zu müssen.«
In Slavíns Gehirn begann es fieberhaft zu arbeiten, und er sah den Piloten aus dem Augenwinkel an. Zu seiner Verwunderung, die alsbald in ohnmächtigen Zorn umschlug, tat Sasa Abuladse jedoch so, als sei die Tatsache, dass er mit einer Tokarew bedroht wurde, die normalste Sache der Welt. Slavín wurde von unbändigem Zorn erfasst, begann zu begreifen, dass er in eine Falle getappt war. »Wie viel?«, presste er zähneknirschend hervor, absolut sicher, die Stimme des Unbekannten bislang nicht gehört zu haben. »Schießen Sie los.«
»Typisch für Sie, absolut typisch«, fuhr Kuragin den Mann, hinter dem er seit geraumer Zeit her war, voller Verachtung an. »Denkt, mit Geld ließe sich alles regeln. Ich fürchte, da sind Sie schief gewickelt.« Kuragin verstärkte den Druck auf Slavíns Schläfe, rückte auf Tuchfühlung an ihn heran und sagte: »Gestatten: Kuragin – Juri Andrejewitsch Kuragin, Oberstleutnant des MGB. Unter anderem zuständig für die Bekämpfung der organisierten Kriminalität, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Nicht im Geringsten.«
»Dachte ich mir. Um meine Zeit nicht unnötig zu vergeuden, einstweilen nur so viel: Es hat uns erhebliche Mühe gekostet, Ihnen und Ihresgleichen auf die Spur zu kommen. Etliche Jahre, um es genau zu sagen. Und auch nur dadurch, indem es dem MGB gelungen ist, Ihr Netzwerk, das sich nahezu über ganz Europa erstreckt, mithilfe von Informanten zu infiltrieren. Kopf hoch, Towarischtsch! Ein Patzer wie der, welcher Ihnen am heutigen Tage unterlaufen ist, kommt schließlich in den besten Familien vor.«
»Sie sollten Märchenerzähler werden, Kuragin – oder im Russischen Staatszirkus als Clown anheuern.«
»Nach Ihnen, Slavín – falls Sie nichts dagegen haben«, fuhr Kuragin ungerührt fort und spöttelte: »Wer anders als Sie wäre so dumm, auf eine derartige Finte hereinzufallen? Nebenbei – der Mann an Ihrer Seite, mein Duzfreund Sasa, arbeitet seit Jahren für den MGB. Ein Glücksfall für uns, dass Sie so weitsichtig waren, gerade ihn um Hilfe zu bitten.«
Der Blick, den Slavín dem Piloten zuwarf, sprach Bände, wovon sich der Leutnant und Informant des MGB, dem die Zufriedenheit ins unrasierte Gesicht geschrieben stand, aber nicht im Geringsten beeindruckt zeigte.
»Ich sehe, Sie beginnen zu begreifen«, sprach Kuragin mit tonloser Stimme, »das erspart uns eine Menge Zeit. Woher ich wissen will, weshalb Sie sich Hals über Kopf nach Berlin begeben haben? Ganz einfach. Mir kam der Zufall zu Hilfe, so etwas soll es ja ab und zu noch geben. Dass Sie im Begriff waren, uns mit Ihrer Anwesenheit zu beehren, war mir dank Sasas Tipp natürlich nicht verborgen geblieben, die Frage war nur, weshalb.«
»Fantasie haben Sie ja, das muss Ihnen der Neid lassen.«
»Und jede Menge Informationen, Slavín –«, konterte Kuragin, dem das Gespräch unbändige Freude zu bereiten schien, »oder wollen Sie etwa bestreiten, dass das Dokument, das sich in Ihrem Jackett befindet, rein zufällig dorthin gelangt ist? Jetzt machen Sie mal einen Punkt, Genosse, für so dumm werden Sie mich doch wohl hoffentlich nicht halten. Ihr Pech, dass Sie gegenüber meinem Freund Sasa, dessen Nachricht mich vor gerade einmal zwei Stunden erreicht hat, im Gegensatz zu Ihren sonstigen Gepflogenheiten ungewöhnlich redselig waren. Mal ehrlich, Slavín – finden Sie nicht auch, dass die Suche nach dem Bernsteinzimmer eine Nummer zu groß für Sie ist?«
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