Heute ist Montag. Die Meinung, der Montag sei ein schwerer Tag, stammt sicherlich von Leuten, die am Wochenende ausspannen, ich hingegen hatte Dienst und fasse den Montag nicht weiter tragisch auf. Heute ist es sogar ruhiger als sonst.
Plötzlich klingelt das Telefon. Ich nehme den Hörer ab. »Lossew«, sage ich.
»Vitali«, meldet sich eine Stimme, die mir bekannt vorkommt. »Hier Wolodja, Wolodja Tschugunow. Klar?«
»Ah, ja!« Ich lächle erleichtert. »Grüß dich.« Wolodja Tschugunow ist Taxifahrer. Vor einem Jahr haben wir uns kennengelernt, als wir in seinem Wagen - in einem kritischen Augenblick kreuzte er zufällig unsern Weg - eines Nachts Verbrecher verfolgten, die einen Diebstahl verübt hatten. Wolodja zeigte sich damals nicht nur als ein As im Autofahren, sondern überhaupt als ein Goldjunge.
»Du, hör mal, was passiert ist«, sagt Wolodja aufgeregt. »Ich hab da so einen Typ am Belorussischen Bahnhof aufgegabelt. >Fahr mich irgendwohin, wo man Mittag essen kann<, sagt er. Darauf ich: >Das kann man hier, auf dem Bahnhof.< ->Ist nicht<, sagt er. >Ich will das Essen mit Geld bezahlen, nicht mit der Freiheit.< Klar?«
»Ein Angereister?«
»Hmhm. Und dann hat er noch gefragt: >Weißt du ein Nachtquartier für mich? Einen halben Hunderter laß ich pro Nacht springen, aber die Bleibe muß sauber sein.< Ich sage zu ihm: >Da muß ich überlegen. Ich wüßte zwar eine Stelle, aber da nehmen sie nur ihre Geschäftsleute.< - >Also dann fahr mich zum Essen. Während ich mich stärke, kannst du überlegen. Hier hast du 'n Zehner dafür. Wenn dir was einfällt, kriegst du einen Fünfziger. Ich bin nämlich ein Geschäftsmann, wie du in Moskau schwer einen findest.< Ich hab ihn in eurer Nähe abgesetzt, im >Baku<. Jetzt tafelt er dort. Was soll ich mit ihm machen? Laufenlassen darf man den nicht, ich hab da so einen Animus. Der hat was ausgefressen, der Schuft, dafür verbürge ich mich. Höchstwahrscheinlich hier in Moskau.«
»Oder woanders. Und ist dann nach Moskau gekommen.« Fieberhaft überlege ich. Wolodja hat recht, den Kerl dürfen wir uns nicht entwischen lassen. Andererseits haben wir keinen formellen Grund, um ihn festzunehmen. Alles, was er ausgequatscht hat, würde er sofort abstreiten, und dann wäre nichts mehr aus ihm herauszuholen. Außerdem hat dieser Knabe vielleicht ernst zu nehmende gefährliche Hintermänner. Man müßte sich ihm ganz ungezwungen nähern, so daß er sich völlig sicher fühlt. Und dann könnte man ihn sich mal unter die Lupe nehmen. Aber wie soll man das anstellen? Da fällt mir das Passende ein.
»Wolodja«, sage ich, »fahr ihn zu folgender Adresse. Schreib sie dir auf!« Ich diktiere ihm die Anschrift und füge hinzu: »Ich komme auch hin. Frag dort nach Onkel Ilja.«
»Ist geritzt«, antwortet Wolodja fröhlich. »In einer halben Stunde brechen wir auf. So lange futtert er.«
»Ist mir sehr recht«, sage ich. »Also mach's gut.« Ich lege den Hörer auf, werfe einen Blick auf die Uhr und hebe erneut ab. Die erforderliche Nummer habe ich im Kopf. Unter ihr erreiche ich meinen Bekannten Ilja Sacharowitsch, bis vor sechs, sieben Jahren arbeitete er bei uns, ebenfalls bei Kusmitsch. Aber als er einmal mit Genossen im Hinterhalt lag, wurde er schwer verwundet. Ungefähr drei Monate verbrachte er in verschiedenen Krankenhäusern und wurde mehrmals operiert. Er kam wieder einigermaßen auf die Beine, doch von unserer Firma mußte er Abschied nehmen. Jetzt ist Mittagszeit, Ilja Sacharowitsch brutzelt sich immer selber was, so daß ich die Chance habe, ihn zu Hause zu erreichen. Ich habe Glück. Ilja Sacharowitsch hört mir interessiert zu, versteht sofort und sagt kurz: »Klar. Komm her. Wirst alles stilecht vorfinden.«
Von Kusmitsch erbitte ich einen Wagen, zuvor habe ich ihm erklärt, worum es geht. Das kann nämlich eine sehr ernste Sache sein. Gesucht wird eine Reihe gefährlicher Verbrecher, und wenn dieser Bursche einer von ihnen ist... Mit solchem Erfolg wage ich allerdings nicht zu rechnen.
Wir flitzen zum äußersten Stadtrand von Moskau, ans Ende des Leninprospekts, fast bis zur Ringstraße. In dem Schneefeld dort sind gigantische weiße Häuser emporgewachsen, die einen mit roten, die anderen mit blauen oder gelben Balkons. Der Schnee hat die aufgewühlte Erde zugedeckt. So sehen Moskaus Vorstädte heute aus. Wenn später Bäume und Sträucher erscheinen, Blumenbeete und Rasenflächen, wenn Teiche ausgehoben werden und die Metro hergeführt wird, ist es hier besser als im Zentrum. Die öde Schneelandschaft, über die der Wind grimmig pfeift, wird nur von kleinen Schwärmen vereister Autos an den zahllosen Eingängen belebt. Vor einem halten wir. Der Wind ist so heftig, daß ich kaum aussteigen kann. Nachdem ich mich vom Fahrer verabschiedet habe, laufe ich ins Haus, genauer, werde ich hineingeblasen, sobald ich die Tür aufgerissen habe.
Ein geräuschloser Lift hebt mich in den elften Stock.
Ilja Sacharowitsch öffnet mir. Der sieht ja aus! Wo mag er diese Hose, dieses Hemd ausgegraben haben? Im Vorraum ist eine Ecke mit leeren Wodkaflaschen vollgestellt. Wo hat er die aufgetrieben? Ilja Sacharowitsch kichert und zieht sich auf dem dicken Bauch die rutschende zerknitterte Hose fest. Er ist zufrieden mit dem Eindruck, den er auf mich gemacht hat. Und ich nicke begeistert, bevor ich den Mantel ablege.
»Verstehst du«, sagt Ilja Sacharowitsch lächelnd, »meine Frau ist für eine Woche zu ihrer Schwester gefahren, nun, und da hab ich einen draufgemacht, ist doch klar. Die ganze Nacht haben wir gesoffen, sind erst gegen Morgen auseinandergegangen. Siehst ja, was ich für eine Visage habe!«
»Weshalb mußt du eine Frau haben?« frage ich grinsend.
»Na ja, im großen und ganzen sieht's bei mir doch anständig aus. Obendrein noch Blumen. Wie kommt ein Saufkopp zu dem allem?«
Er führt mich ins Zimmer und sagt zufrieden: »Hab ich nicht ein stilechtes Milieu gezaubert in der Stunde?«
Ja, Ilja Sacharowitsch hat viel Phantasie bewiesen. Übrigens hat er sich nichts auszudenken brauchen, in den zwanzig Jahren seiner Arbeit bei der Kriminalmiliz hat er genug gesehen. Ich ziehe die Jacke aus, entledige mich des Schlipses, hake die Schulterriemen mit der Pistolentasche ab und verstaue alles im Schrank. Die Pistole stecke ich mir nicht ein, dafür besteht jetzt keine Notwendigkeit. Das Treffen wird friedlich verlaufen. Es gilt nur festzustellen, was für ein Vogel uns ins Garn gegangen ist, ob er vielleicht von uns gesucht wird. Und selbst wenn er von uns gesucht wird, so kann ich ihn trotzdem nicht gleich festnehmen. Ilja Sacharowitschs Wohnung muß unverdächtig bleiben. Wir verhaften ihn zu anderer Zeit und an einem anderen Ort, wenn er an die Wohnung, in der er übernachtet hat, nicht mehr denkt.
Ilja Sacharowitsch betrachtet kritisch den Tisch, der mit schmutzigem, an mehreren Stellen von Zigaretten versengtem Wachstuch bedeckt ist. Dicke Wurst- und Brotscheiben liegen darauf, daneben stehen eine grob aufgeschlitzte Konservenbüchse und eine halbvolle Wodkaflasche; Zigaretten, Streichhölzer und speckige Karten vervollständigen das Bild. Mit einem Wort, alles scheint stilecht zu sein. Aber Ilja Sacharowitsch kratzt sich nachdenklich am Ohr und geht in die Küche. Von dort bringt er einen Fetzen Zeitungspapier und kritzelt etwas darauf. Dann sagt er befriedigt: »Vergiß nicht: Du hast schon einen halben Hunderter an mich verloren!«
Unterdessen klingelt es draußen. Ich lasse mich auf einen Stuhl fallen und zünde mir eine Zigarette an. Dann scharre ich die Karten zu mir. Ilja Sacharowitsch geht öffnen. Aus dem Vorraum dringen Getrappel, Wolodjas aufgeregte Stimme und Ilja Sacharowitschs Gebrumm. Eine dritte Stimme höre ich nicht. Doch, jetzt. Der dritte Mann sagt etwas - dumpf und unverständlich. Schließlich kommen alle ins Zimmer.
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