Erst als ich anhielt, die Beifahrertür aufstieß und» Hallo, Anna!«sagte, kapierte sie, wem sie da begegnet war. Sie guckte wie eine Kuh, wenn’s donnert, dann fingen ihre Augen an zu flackern, und sie schaute sich mit gehetztem Blick nach Hilfe um. Wäre irgendwo ein anderes Auto aufgetaucht, ich glaube, sie hätte sich davorgeworfen in ihrer Panik. Es ließ sich aber kein Auto blicken. Ringsum gab es nur Wiesen, dunkelgrüne, saftige, üppige Maiwiesen, deren Gräser sich im Wind bogen und naß glänzten vom Regen. Ein Stück weiter vorn begann der Wald, und erst dahinter, gut eineinhalb Kilometer weiter, lag dann das Dorf, ihr Heimatdorf. Sie war so nah am Ziel!
«Komm, steig ein«, sagte ich,»ich fahre dich nach Hause. Eher fällst du tot um, als daß du es mit dem Koffer bis dorthin schaffst!«
Das klang harmlos, doch ich meinte es wortwörtlich. Sie hatte noch eine knappe halbe Stunde zu leben.
Ich weiß gar nicht mehr genau, ob sie letzten Endes freiwillig ins Auto stieg oder ob ich sie mit Gewalt hineinbeförderte. Am Ende saß sie jedenfalls drin.
Ihren Koffer hatte ich im Kofferraum verstaut. Ich nahm ihn später mit nach Ascona, hängte all ihre Sachen in den Schrank. Das gab mir ein Gefühl, als sei sie noch da.
Ich weiß nicht mehr genau, was im Wald geschah. An das scharfe Messer, das ich bei mir trug (hatte ich die Tat geplant?), erinnere ich mich, an das Blut und eben daran, daß sie meinen Schuh festhielt, als sie starb. Ich wollte sie nicht einfach liegenlassen, das hatte sie nicht verdient. Ich stellte sie aufrecht an einen Baum und band sie daran fest. Das sah würdevoll aus! Der Wind konnte mit ihren Haaren spielen.
Ich kam danach keineswegs wie ein Metzger daher, aber ein paar Spritzer hatte ich doch abbekommen. Ich fuhr noch einmal in meine Pension, wechselte meine Kleidung, knäulte die getragenen Sachen zusammen und verscharrte sie an einer anderen Stelle im Wald unter Erde, Reisig und Laub. Annas Koffer wollte ich am nächsten Tag in ein Schließfach auf dem Augsburger Hauptbahnhof bringen. Ich kam spät an bei Lisa und ihrem Vater an diesem Tag, aber das fiel nicht weiter auf, weil wegen meiner verschiedenen Schutzbefohlenen meine Besuche immer ein wenig unregelmäßig waren.
Eigentlich hätte ich gleich in die Schweiz zurückkehren können, aber mir war klar, daß dann, sobald man Anna fand, der Verdacht auf mich fallen würde. Zwar kannte Lisa mich nur unter dem Namen Benno (»Nennen Sie mich einfach Benno, alle sagen so zu mir!«), aber meine Arbeitgeberin hatte natürlich meinen Paß gesehen und kannte meinen vollen Namen. Sie würden mich ausfindig machen können.
Also blieb ich noch einige Wochen, obwohl mich mein Job wirklich anekelte und ich ihm jetzt, da ich mein eigentliches Ziel erreicht hatte, nichts mehr abgewinnen konnte. Ich bekam das ganze Drama mit: Drei Tage nach dem Geschehen kreuzte die Polizei auf, zwei Beamte mit betretenen, schreckenverheißenden Mienen, und sie nahmen Lisa mit, damit sie ihre Schwester identifizierte.
Lisa sah grau und um Jahre älter aus, als sie zurückkam. Sie tat mir leid, sie stand so alleine da mit ihrem Entsetzen. Ihren Vater hatte die Nachricht auch getroffen, aber er war schon zu krank, um sich noch wirklich erschüttern zu lassen. Er beschäftigte sich bereits vorwiegend mit seinem eigenen Sterben.
Im Zuge der Ermittlungen wurde ich natürlich auch überprüft. Lisa hatte mir nie von Anna erzählt, also beteuerte ich, von der Existenz einer Schwester keine Ahnung gehabt, geschweige denn diese je kennengelernt zu haben. Ich glaube, niemand hatte mich auch nur für einen Moment im Verdacht. Ich tat eine harte Arbeit, die niemand tun wollte, und ich galt als zuverlässig, pflichtbewußt und liebenswürdig. Meine Arbeitgeberin berichtete den Beamten, daß ich seit mehr als einem Vierteljahr für sie tätig war, und ließ durchblicken, daß ich mit meiner Tätigkeit versuchte, den schweren Tod meiner eigenen Eltern zu verwinden. Lisas Vater erklärte, ich sei ein fabelhafter junger Mann, was ich als schmeichelhaft empfand, denn als jungen Mann sah ich mich keineswegs mehr.
Und noch ehe ich in die Verlegenheit kam, bei Lisa kündigen zu müssen, erklärte diese von sich aus, sie könne mich nicht mehr bezahlen, sie würde die Pflege von nun an selbst übernehmen. Geldgieriges kleines Ding! Ihr Vater bezahlte den Pflegedienst von seiner Rente, aber sie sah wohl ihr Erbe dahinschmelzen und wollte einen Riegel vorschieben.
Mir konnte es recht sein. So bekam außer meiner Arbeitgeberin niemand meine Kündigung mit, jedenfalls keiner von den Heidauers. Ich löste mich in Nichts auf. Ich hatte meinen Frieden gefunden. Ich ging in meine Heimat zurück.
In der Nähe des Hauses gab es einen kleinen See. Leona erinnerte sich, dort als Kind ein paarmal gebadet zu haben. Das Wasser war selbst im Hochsommer immer sehr kalt gewesen, denn der See lag mitten im Wald, und nur seine Mitte wurde nicht von Bäumen beschattet. Wenn man hineinwatete, wühlte man den moorigen Grund auf, der das Wasser trübte. Es schmeckte ein wenig metallisch, wenn etwas davon in den Mund geriet. Eigentlich mochten nur Kinder den See, jedenfalls hatte Leona früher nie Erwachsene darin gesehen. Es gab Fotos, die sie mit roten Schwimmflügeln an den Oberarmen, am seichten Rand herumplanschend, zeigten. Sie war ziemlich pummelig gewesen zu dieser Zeit und strahlte stets wie ein Honigkuchenpferd über das ganze runde Gesicht.
Der Donnerstag brachte so heißes Wetter, daß Leona am Mittag beschloß, den See aufzusuchen. Sie packte sich einen Korb mit belegten Broten und einer Flasche Mineralwasser, tat einen Badeanzug und ein Handtuch hinein und machte sich auf den Weg.
Sie hatte die Strecke länger in Erinnerung gehabt. Hatte sie als Kind nicht immer gejammert und alle paar Schritte gefragt, wann man nun endlich da sei? Jetzt dauerte es eine knappe Viertelstunde, und der Weiher — denn ein See war es nur in ihrer Kindheitserinnerung gewesen — lag vor ihr. Das Wasser brackig wie eh und je, die Bäume ringsum so hoch und dicht, daß kaum Sonne zwischen ihnen hindurchdrang. Das Laub glänzte in hellem, frischem Grün, hatte noch nicht seine letzte Dichte erreicht. Im Hochsommer würde es hier noch schattiger und dunkler sein.
Ein paar Jugendliche aus dem Dorf, fünf junge Männer, saßen auf Baumstümpfen, die sich am Rande des Weihers um eine Feuerstelle herum gruppierten, eine Art Grillplatz offenbar, im Sommer vermutlich ein beliebtes Ausflugsziel und Samstagabendtreff. Die Jungs hatten ein paar Bierflaschen und Coladosen um sich herum aufgebaut, rauchten und beobachteten höchst interessiert die Ankunft der Fremden.
Leona kümmerte sich nicht um sie. Sie stellte ihren Korb neben einen der wenigen sonnigen Flecken, die es hier gab, kramte ihren Badeanzug hervor, zog sich im Schutz eines Gebüsches um und watete mutig ins Wasser.
Das Wasser war so kalt, daß ihr von den Knöcheln her sofort Kältewellen den Körper hinaufrasten. Mit den Füßen versank sie tief im Schlick.
Verdammt, dachte sie. Sie wäre umgekehrt, hätte sie keine Zuschauer gehabt.
«Guckt mal, die Tante geht wirklich rein!«schrie einer der jungen Kerle begeistert.
«Paß auf, daß du keinen Kälteschock kriegst!«rief ein anderer und wollte sich totlachen über diese Bemerkung.
Typisch, dachte Leona mit einiger Verbitterung, wenn man erst über dreißig ist, halten diese Achtzehnjährigen einen für ein Fossil!
«Da gibt’s Krokodile!«rief ein anderer, bemüht, seine Kumpels zu übertrumpfen.»Seien Sie bloß vorsichtig, Lady!«
Sie biß die Zähne zusammen und ließ sich ins Wasser gleiten. Es hätte sie nicht verwundert, wenn Eisblöcke auf sie zugeschwommen wären, so kalt war es. Ihr Mut wurde von den Jugendlichen mit Begeisterungsrufen kommentiert. Mit kräftigen Armbewegungen teilte sie das braune Wasser. Es roch wie früher. Es schmeckte wie früher, wenn es an die Lippen kam. Es war so kalt und moorig wie früher.
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