Es schien Lydia angebracht, vorsichtig zu sein.
«Ich weiß nicht. Ich mochte sie.«
Ungeduldig trommelte er mit den Fingern auf den Tellerrand.
«Natürlich. Ich mochte sie auch. Aber ich war nicht blind gegenüber ihren Fehlern.«
Lydia schwieg. Sie mußte aufpassen, was sie sagte.
«Eva war auch ziemlich verlogen«, fuhr Robert fort.»Sicher hat sie dir auch von unserer Kindheit in Ronco erzählt?«
«Ja. Oft.«
«Dachte ich es mir doch. Die Geschichten hat sie jedem zu verkaufen versucht. Es war kein Wort wahr! Weißt du, wo wir aufgewachsen sind, Eva und ich? In Frankfurt-Eschborn! Klingt schon nicht mehr so toll, wie?«
«Aber…«, fing Lydia an, brach den Satz dann jedoch erschrocken ab.
Es wäre unklug, ihn daran zu erinnern, daß er bei gemeinsamen Treffen mit seiner Schwester und ihr selbst immer von jener Villa in Ronco hoch über dem Lago Maggio-re gesprochen hatte.
Er fixierte sie scharf.»Ja?«
«Nichts. Ich habe mich nur gewundert. Warum sollte sie mich anlügen?«
«Sie war ein ziemlich verdorbenes Stück. Das ist mir spätestens da aufgefallen, als sie sich diesem Professor Fabiani an den Hals schmiß. Billig, einfach billig!«
Er stocherte mit der Gabel hektisch im Essen herum und machte ein haßerfülltes Gesicht. Lydia schwieg eingeschüchtert. In der Gegenwart dieses Mannes hatte sie das Gefühl, auf einem Pulverfaß zu sitzen. Jeden Moment konnte sich eine Katastrophe ereignen. Sie erinnerte sich an die Worte des Polizeibeamten, der bei ihr gewesen war und sie nach Robert Jablonski gefragt hatte.
«Ich muß Sie warnen! Der Mann ist hochgradig geistesgestört und außerordentlich gefährlich!«
Sie hatte sich das damals nicht vorstellen können. Der nette, gutaussehende Robert! Nun konnte sie es sich sehr wohl vorstellen und fror bei jedem Blick auf ihn.
«Morgen früh werde ich dich verlassen«, sagte er.»Dein Auto und deine Scheckkarte nehme ich mit.«
Er konnte mitnehmen, was er wollte, wenn er ihr nur nichts tat!
«Ich verrate Sie bestimmt nicht«, versicherte sie sofort.
Robert grinste, und wieder fluteten Kältewellen über Lydias Körper.
«Nein«, bestätigte er,»das wirst du ganz sicher nicht tun.«
Ihr wurde übel, und in ihren Ohren begann es zu rauschen.»Sie… ich meine, Sie werden doch nicht…«, begann sie, aber sie vermochte das Furchtbare nicht auszusprechen.
«Was werde ich nicht? Warum redest du nicht weiter, Lydia?«
Sie öffnete den Mund erneut, aber ihre Stimme versagte. Sie schluckte trocken.
«Ich möchte, daß du sagst, was du sagen wolltest, Lydia«, sagte Robert sehr sanft.
Keuchend stieß sie hervor:»Ich habe Angst, Sie bringen mich um.«
Er musterte sie lächelnd.»Du hast Gulaschsoße am Kinn«, sagte er schließlich.
Als sie unsicher die Hand hob, um über ihr Kinn zu tasten, neigte er sich blitzschnell über den Tisch und schlug ihr so hart auf die Finger, daß sie aufschrie — vor Schmerz und vor Schreck.
«Hatte ich dir befohlen, es wegzumachen? Hatte ich das?«
«Nein«, flüsterte Lydia. Unter dem Tisch preßte sie ihre
mißhandelte Hand zwischen die Knie. Sie tat entsetzlich weh.
«Ich muß Leona finden«, erklärte er, als sei nichts geschehen.»Sie versteckt sich vor mir. Sie begreift nicht, daß wir zusammengehören. «Er schob seinen Teller zurück und sah Lydia traurig an.»Anna hat das auch nicht verstanden. Frauen können manchmal ziemlich dumm sein. Sie verspielen ihr Glück — aus schierem Leichtsinn.«
Lydia wagte nichts zu erwidern. Von der Hand aus schossen Schmerzen in ihren ganzen Körper. Es war ihr egal, welches Problem Robert mit Leona hatte, es war ihr auch egal, was aus Leona wurde. Sie wollte nur selbst irgendwie davonkommen. In vielen einsamen, dunklen Stunden hatte sie oft gedacht, Sterben sei besser als Leben, und sie war überzeugt gewesen, es würde ihr nichts ausmachen zu gehen. Und nun, in diesen Minuten, mit diesem Irren an einem Tisch, der vermutlich keinerlei Skrupel hatte, sie umzubringen, wenn das in seine Pläne paßte, merkte sie, wie sehr sie am Leben hing. Mit jeder Faser ihres Herzens und ihres Körpers wünschte sie sich, weiterleben zu dürfen.
Sie hatte seit ihrer Kindheit nicht mehr gebetet, aber nun flehte sie Gott wortlos an, sie zu verschonen.
Ich werde etwas daraus machen, versprach sie, ich weiß noch nicht, was und wie, aber wie bisher wird es nicht weitergehen. Laß mich nicht sterben! Laß mich bitte nicht sterben!
Robert stand auf.»Mahlzeit beendet! Los, Lydia, setz dich wieder in deinen Sessel dort drüben!«
Sie wankte zu ihrem Fernsehsessel. Nachdem sie sich gesetzt hatte, fesselte er sie wieder, verklebte ihren Mund.
Fröhlich pfeifend, begann er den Tisch abzuräumen und hörte sich dabei die Nachrichten im Fernsehen an. Soweit Lydia das mitbekam, hatte sich an diesem Tag auf der ganzen Welt nichts Besonderes ereignet.
«Vielleicht solltest du Leona doch aufsuchen«, sagte Wolfgang,»egal, ob sie dagegen ist oder nicht. Sie hat sich in den Kopf gesetzt, noch eine Woche zu warten, ob die Polizei Jablonski festnehmen kann, und im anderen Fall ihr Versteck zu verlassen und nach Hause zurückzukehren. Ich mache mir Sorgen!«
«Aber das ist doch Wahnsinn!«sagte Carolin.»Wenn sie jetzt zurückkommt, dann war alles umsonst.«
«Eben. Sie begibt sich in schlimme Gefahr. Aber ich fürchte, daß sie auf mich nicht hören wird. Und am Telefon ist das sowieso alles so schwierig!«
Wolfgang klang ziemlich verstört, fand Carolin. Es hatte sie gewundert, daß er so spät am Abend noch in Lauberg anrief und gerade sie zu sprechen verlangte. Sie hatte sogleich geargwöhnt, daß es um Leona ging, und ihre Vermutung hatte sich bestätigt.
«Warum will sie denn etwas so Verrücktes machen?«fragte sie.
«Sie scheint der Ansicht zu sein, daß sich nichts tun wird, solange sie beide, sie und Jablonski, in Ihren Verstecken sitzen und darauf warten, daß der andere einen Fehler macht«, sagte Wolfgang.»Sie meint, daß sie sich zeigen muß, damit Robert dann reagiert und dabei geschnappt werden kann.«
«Lockvogel in eigener Sache«, murmelte Carolin.»Viel zu riskant!«
«Das meine ich eben auch. Das schlimme ist nur, ich finde keine wirklich guten Gegenargumente, was ihre Theorie angeht. In der Sache könnte sie durchaus recht haben. Aber…«
«Soll ich sie anrufen?«
«Noch besser wäre es, wie gesagt, du würdest einfach hinfahren. Es wird dauern, sie zu überzeugen. Du weißt, was für ein Sturkopf sie ist.«
«Sie wollte das ausdrücklich nicht.«
«Ich weiß. Aber es geht um ihr Leben. Ich würde selber hinfahren, aber ich traue mich nicht.«
«Anfangs hast du gesagt, es sei auch zu gefährlich, wenn ich hinfahre!«
«Ich weiß. Aber allmählich haben wir kaum noch eine Alternative, nicht?«
«Ich werde es mir überlegen«, versprach Carolin,»uns bleibt ja noch diese Woche. Paß auf, Wolfgang: Wenn Leona nicht bis Freitag von ihrem verrückten Vorhaben Abstand genommen hat, fahre ich zu ihr und sperre sie dort notfalls in den Keller. Ausnahmsweise wird sie einmal tun, was ich ihr sage. Bisher war es immer anders herum, aber es wird Zeit, das zu ändern.«
Es ist viel angenehmer, einen Feind im Auto sitzend zu beschatten, als sich dabei im Freien aufzuhalten. Abgesehen davon, daß mich das Auto beweglich macht, bietet es mir auch ein gewisses Maß an Bequemlichkeit. Ständig habe ich ein Dach über dem Kopf, und nachts kann ich den Sitz umlegen und schlafen. Ich habe mir ein Kissen und eine Decke gekauft. Es ist richtig gemütlich in meiner kleinen Wohnung auf vier Rädern. Glücklicherweise hält das warme Wetter draußen an. Die Abende sind kühl, aber in meine Decke gewickelt machen sie mir nichts aus. In Maßen — denn ich will ja die Batterie nicht völlig entleeren — kann ich sogar Radio hören. Vor allem: Ich bin weg von der Straße. Mein ständiges Herumlungern am Friedhof und an der Bushaltestelle fing an, auffällig zu werden. Zumal ich aussah wie ein Clochard und stank wie eine Müllhalde. Nun parkt mein Auto in einer langen Reihe anderer Autos, unauffällig und sehr zivilisiert. Vorüberkommende sehen einen gepflegten Mann darin sitzen, der meistens Zeitung liest. Die meisten schauen aber nicht einmal hinein. Ich errege keinen Abscheu mehr und kein Mitleid. Nicht mal Interesse. Das macht mich sehr ruhig.
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