«Erzählen Sie mir doch Ihre Geschichte«, ermunterte er sie,»nachdem Sie nun schon beinahe bewußtlos neben meinem Auto zusammengebrochen sind…«
Sie lächelte, aber es war ein gequältes Lächeln.»Wo soll ich anfangen? Ich…«
Dann unterbrach sie sich plötzlich, und ihr Gesicht trug auf einmal einen sachlichen Ausdruck, den Alan als sehr anziehend empfand und der ihr, wie er dachte, viel besser stand als die Leidensmiene, die sie zuvor getragen hatte.»Ach, eigentlich läßt es sich auch in ein paar wenigen Worten sagen. Ich war Lehrerin. Ich bin in meinem Beruf gescheitert. Irgendwie komme ich seitdem seelisch nicht mehr richtig auf die Beine. Und seit einigen Jahren lebe ich mit starken Beruhigungsmitteln. Ich kann ohne die Tabletten praktisch gar nicht auf die Straße gehen.«
«Oh…«, sagte Alan überrascht. Er hätte diese langweilige Person nicht für eine Medikamentenabhängige gehalten. Aber, fragte er sich sofort, was denkst du, wie Medikamentenabhängige aussehen? Irgendwie dramatisch? Es waren wohl völlig normal wirkende Menschen, denen so etwas passiert.
«Dann war das heute…«, deutete er eine Vermutung an.
Franca nickte.»Es war nicht die Hitze. Nicht der Kreislauf. Ich habe meine Tabletten vergessen. Daheim in Deutschland. Eine einzige hatte ich noch. Mit der habe ich den Flug geschafft. Aber dann ließ die Wirkung nach — in der Warteschlange von The Terrace. Na ja«, sie zuckte mit den Schultern,»und den Rest kennen Sie.«
«Ja. Den Rest kenne ich.«
Er stand auf.»Entschuldigen Sie, ich hole mir nur noch einen Whisky.«
Es fiel ihm ein wenig schwer, den Kurs auf die Bar zu halten. Ihm war schwindlig, und er hoffte nur, daß er den Heimweg mit dem Auto schaffen würde. Ich dürfte eigentlich nicht mehr…, dachte er, aber zugleich wußte er, daß er nicht würde verzichten können. Sein ganzer Körper verlangte nach noch mehr Alkohol. Und seine Seele. Mit jedem Schluck wurde ihm Maja gleichgültiger, aber noch war sie ihm nicht gleichgültig genug. Er brauchte noch ein, zwei Gläser, und dann würde er gelassen zusehen können, wie sie mit jedem Mann der Insel vögelte.
Ziemlich wacklig kehrte er mit dem Glas in der Hand zum Tisch zurück, wo die blasse Frau aus Deutschland immer noch auf der äußersten Stuhlkante balancierte, ihr volles Glas umklammert hielt und jeden Neuankömmling aus schreckgeweiteten Augen ansah.
Wie schwach sie ist, dachte er mit einem Anflug von Aggression, aber gleich darauf hätte er fast gelacht: Wer war er, so zu denken? Er hielt sich am Alkohol genauso fest wie sie sich an ihren Tabletten. Seine Ängste, seine quälenden Gedanken, seine Phobien mochten anderer Natur sein als ihre, aber das spielte im Grunde gar keine Rolle. Es gelang ihm nicht, das Leben ohne Whisky zu ertragen, und sie mußte Tranquilizer schlucken, um überhaupt auf die Straße gehen zu können.
Da haben sich wirklich zwei gefunden, die in einem Boot sitzen, dachte er, und angesichts ihres zerquälten Gesichts empfand er diese Vorstellung als äußerst unangenehm. Er hatte doch wohl keinesfalls eine ähnlich labile Ausstrahlung wie sie? Oder vielleicht war das bereits der Fall, und er merkte es nur nicht?
«Ab und zu scheinen Sie aber doch zu reisen«, stellte er fest,»denn sonst wären Sie ja nicht hier, oder?«
«Zweimal im Jahr«, sagte sie.»Zweimal im Jahr fliege ich für zwei oder drei Tage nach Guernsey. Das ist aber auch alles.«
«Und das schaffen Sie?«
Sie hob entschuldigend die Schultern.»Mit Hilfe der Tabletten, ja.«
«Und warum bleiben Sie immer nur so kurz? Da lohnt sich der Flug doch kaum. Und Sie können die Insel gar nicht kennenlernen.«
Sie druckste ein wenig herum.»Ich bin geschäftlich hier. Für meinen Mann.«
«Verstehe.«
Er verstand tatsächlich. Vermutlich handelte es sich um eine Steuergeschichte. Er nahm an, daß Franca Gelder abhob, die ihr Mann an der deutschen Steuer vorbei nach Guernsey gebracht hatte. Geschäfte dieser Art hatten sie hier ständig. Ihn ging es nichts an. Auch wenn illegale Machenschaften dahintersteckten, er brauchte sich darum nicht zu kümmern.
«Sie sollten sich mal länger auf der Insel aufhalten«, meinte er,»diesmal zum Beispiel. Das Wetter ist herrlich. Und es soll die ganze nächste Woche so schön bleiben. Sie könnten wandern und schwimmen und sich ein wenig erholen.«
Sie lächelte sehr müde.»Das geht nicht. Ich muß so schnell wie möglich nach Hause. Ich brauche meine Tabletten und das Rezept meines Arztes. Sie verstehen nicht…«
Sie runzelte die Stirn, schien angestrengt zu überlegen, wie sie ihm den komplizierten Sachverhalt klarmachen könnte.»Es geht mir sehr schlecht ohne die Medikamente. Ich kann dann nicht für mich garantieren. Ich habe entsetzliche Panikanfälle, von denen ich nicht weiß, wie ich sie durchstehen soll.«
«Aber diesen haben Sie durchgestanden.«
Sie sah ihn erstaunt an.»Was meinen Sie?«
«Na ja, Sie haben doch vor ungefähr zwei Stunden in The Terrace einen solchen Panikanfall bekommen. Und Sie konnten dabei nicht auf Ihre Tabletten zurückgreifen. Sie haben ihn durchgestanden.«
«Nun, ich…«
«Nein. Sie haben ihn durchgestanden. Es war schlimm, es war fürchterlich, aber Sie sind nicht daran gestorben.«
«Ich dachte, ich sterbe. Ich wußte nicht mehr…«
Diesmal zögerte er nicht, sie anzufassen. Er legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm. Er konnte das leise Zittern in ihrem Körper spüren.»Sie dachten, Sie sterben. Sicher, das kann ich verstehen. Sie dachten, Sie stehen es nicht durch. Aber was war dann?«
«Sie kamen vorbei und kümmerten sich um mich.«
Er schüttelte den Kopf.»Ich habe Ihnen einen Sitzplatz in meinem Auto angeboten. Aber das war nicht entscheidend. So oder so, die Panik wäre verebbt. Das ist einfach so.«
«Woher wollen Sie das wissen?«
«Ich denke, so ist das Prinzip. Und der Vorgang mit Ihnen hat das bestätigt. Ich denke, Sie haben seit sehr langer Zeit zum erstenmal wieder die Panik bis zu ihrem Höhepunkt kommen lassen. Zwangsläufig, weil Sie sie diesmal nicht vorher mit Ihren Pillen abfangen konnten. Aber nichts, gar nichts kann höher steigen als bis zu seinem eigenen Höhepunkt. Danach beginnt es wieder zu fallen. Das ist wie mit den Wellen des Meeres. Sie steigen und steigen, türmen sich auf, hoch, bedrohlich. Sie schwellen immer mehr an. Doch dann ist der Scheitelpunkt erreicht. Sie kippen und stürzen in sich zusammen. Und dann rollen sie ganz flach und schäumend über den Sand.«
Sie schob ihr Glas von sich.»Ich bin entsetzlich müde. Glauben Sie, wir könnten jetzt fahren?«
Sein Glas war wieder leer. Normalerweise hätte er nun weitergetrunken bis zur Besinnungslosigkeit, er befand sich genau auf der richtigen Schiene. Aber vielleicht sollte er ihrer Bitte nachkommen und es als Fügung betrachten. Jetzt mit ihr nach Hause zu gehen, würde ihn vor einem fürchterlichen Absturz bewahren — und vor einem äußerst schmerzhaften Kater am nächsten Morgen.
«Okay«, gab er nach,»wir gehen.«
Er stand auf. Es machte ihn fast verrückt, die goldfarbene Flüssigkeit in ihrem Glas zu betrachten — den Whisky, den sie nicht mehr trinken würde und den er… Nein, er würde es nicht tun. Sogar die labile Person hatte es ohne Droge geschafft; es war das mindeste, es ihr jetzt gleichzutun.
«Sie sollten an diesen Tag immer denken«, sagte er, als sie nebeneinander hinaus in die Dunkelheit traten. Die frische, salzhaltige Luft tat ihnen gut.»Sie sollten sich erinnern, wie es war, als die Panik kam und Sie ihr nichts entgegenzusetzen hatten. Wie es sich anfühlte, als sie anstieg und anstieg und Ihnen den Atem nahm und Sie dachten, Sie müßten sterben. Und wie sie dann in sich zusammenfiel. Wie Sie wieder atmen konnten, ruhig und gleichmäßig. Wie das Zittern aufhörte. Wie die Gedanken wieder klar wurden und Sie feststellten, daß Sie am Leben bleiben würden. Und so wird es immer sein.«
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