Umgekehrt war es genauso: Heddas Eleganz, ihre aufrechte Schönheit, ihre geradeaus wie ein amerikanischer Highway in eine helle Zukunft sich ausstreckende Zielstrebigkeit, ihre Tatkraft, ihr frühes Aufstehen am Morgen, die Eigenheit, immer sofort zu wissen, was zu tun war, im Zug beispielsweise immer eine Sekunde vor ihm den reservierten Platz zu finden, auf dem Stadtplan den richtigen Ort, im Möbelladen das richtige Möbelstück, all das, was er früher bewundert und dem er sich rückhaltlos anvertraut hatte, alles das hatte ihn später aufgeregt, ohne dass er es sich aber hätte anmerken lassen.
Passiv. Dieses Wort war oft gefallen in den letzten Monaten ihrer Ehe. Immer bist du so passiv. Nie tust du etwas. Sag doch auch mal was.
Allerdings war er schon immer das gewesen, was sie passiv nannte. Aber früher hatte sie es gemocht, so wie er ihre Aktivität gemocht hatte. Denn seine Passivität hatte sie für Nachdenklichkeit gehalten. Sein Schweigen für Tiefe. Seinen Zynismus für Ironie. Seine bösen Bemerkungen für Witze, über die sie gelacht hatte. Seine negative Weltanschauung für Philosophie, über die sie gestritten hatten. Seine Kompositionen für Musik. Sein Klavierspiel für Klavierspiel. Seine Liebe für Liebe.
Und vielleicht war es das alles auch gewesen.
Ist man nicht der, fragte sich Holler, den der andere in einem sieht?
Sein Blick ging aus dem Zugabteil hinaus ins Land. Staubiges Land. Staubiges Licht über den Uferstraßen, dem Meer, den Neubauten, von Palmen umstanden, und den Autos. Eine Herde Büffel mit geschwungenen Hörnern. Der Vorhang am Fenster vibrierte. Der Deckel des Aschenbechers klapperte. In der Scheibe spiegelte sich Diedrich, durch dessen Gesicht die Büffelherde zog, ein Palmenhain, eine sich hebende, sich senkende Stromkabellinie. Wenn das Meer hinter der Uferbebauung plötzlich auftauchte, ein Blitzen.
Diedrich hatte ihm Hedda Groning vorgestellt. Er hatte sie ihm vorgestellt, bevor er sie sich selbst fortan vorgestellt hatte, als seine Retterin, als seine Lebensfrau, seine Lebenslösung. Ein riesiger Garten, ein Park, in dessen Mitte auf einer kleinen Anhöhe ein Gutshaus lag, sandfarbenes Gemäuer mit hohen lichtgefüllten Fenstern und einer Freitreppe, über die ein weißes Heer von Kellnerinnen und Kellnern mit bis zum Boden reichenden Schürzen hinab in den Park gestrebt war, um die letzten Anweisungen entgegenzunehmen. Sie aber spielten auf einer Bühne, direkt beim See. Sie spielten Hintergrundmusik, wie es im Vertrag vereinbart worden war. Sie hatten gut angezogen zu sein und nicht aufzufallen. Eine Musik hatte man sich für die Veranstaltung, die irgendetwas mit Kultur und Politik zu tun hatte, gewünscht, eine Musik, die nicht auffällt und trotzdem da ist.
Hedda Groning, die im engen Kleid durch das schattige Grün auf sie zugeschritten war, hatte die Musik aber bemerkt. Schon von der Bühne aus hatte Holler gesehen, wie sie als eine der wenigen mit einem langen Glas in der Hand an einem Baum lehnte und zu ihnen heraufsah. Als Diedrich sie ihm vorstellte, sah er nur ein weißes Lächeln und zwei dunkle Augen, ein allgemeines Bild von einem Gesicht, und erst später am Abend, als er mit einem Glas Whiskey abseits stand und sie zum zweiten Mal in seine Richtung schreiten sah, konkretisierte sich ihre Erscheinung, die offenbar zielgerichtet neben ihm stehen blieb. Er trank seinen Whiskey aus und schwieg, während sie an seiner Seite über die Stehtische hinweg durch den Park in die Ferne sah, denn er vermochte sich nicht vorzustellen, was sie von ihm wollen könnte, außer vielleicht Klavierunterricht.
«Willst du Klavierunterricht?«, fragte er sie, als sie schon lange geschwiegen hatten. Sie lachte. Er zündete sich eine Zigarette an. Sie sagte, sie habe noch nicht darüber nachgedacht. Dann sagte sie:»Ich hätte es lieber, wenn du für mich spielst. «Sie lächelte, ihre Zähne waren hell vor dem dunklen Grün des Gartens, dann drehte sie sich um und ging davon, winkte mit zwei Fingern einmal kurz durch die Luft, den schwingenden Rücken ihm zugewandt, in der sicheren Gewissheit seines Blicks.
Was er da noch nicht wusste, war, dass in jenem Moment bereits alles entschieden war, denn Hedda Groning hatte immer alles bekommen, was sie sich wünschte. Und ihn, Tom Holler, den sie nie Tom, sondern Thomas nannte mit ihrem etwas trockenen Akzent, hatte sie sich gewünscht. Sie hatte sich ihn in den Kopf gesetzt, wie ein verwöhntes Mädchen sich ein Pony in den Kopf setzt und dieses bekommt und dann bald lästig findet, das dachte er.
Er sah zum Fenster auf den sich spiegelnden Diedrich, der ihn plötzlich an einen Maikäfer erinnerte. Er sah ihn plötzlich mit drahtartigen Fühlern im Zug sitzen, mit einem Chininpanzer um den Bauch und mit auf dem Rücken gefalteten Flügeln. Auf den zusammengedrückten Knien lag eine Papiertüte mit Erdnüssen, die er knackte und sich dann flink in den Mund schob oder Tom reichte. Diedrichs Erdnüsseknacken erinnerte wiederum an die geschäftige Tätigkeit eines Eichhörnchens, wodurch sich der Saxofon und Posaune spielende Kollege in seiner Vorstellung zu einem Mischfabelwesen aus Maikäfer und Eichhörnchen, das er in Gedanken Maichhörnchen oder Aichkäfer nannte, zu verwandeln begann. Er musste lachen. Ein Lachanfall, ein Kitzeln, das sich in seinem Hals ausbreitete und in einem Hustenanfall endete.
«Du solltest weniger rauchen«, sagte Diedrich.
«Stimmt«, sagte Tom. Der Zug hielt in einem kleinen Bahnhof.
«Ach Didi«, sagte Tom, als der Zug sich wieder in Bewegung setzte,»warum sind wir nur so unglücklich?«
«Ich bin nicht unglücklich!«, sagte Didi.
«Doch«, sagte Tom,»du bist auch unglücklich! Im Grunde sind wir alle unglücklich.«
In der Fensterscheibe sah er, wie Diedrich den Kopf schüttelte. So wie er eigentlich immer über ihn den Kopf schüttelte. Nur nicht, als er Hedda geheiratet beziehungsweise Hedda ihn geheiratet hatte, drei Monate nach ihrer ersten Begegnung im grünen schattigen Park. Da war Diedrich zufrieden gewesen und hatte nicht den Kopf geschüttelt. Heddas Eltern dagegen waren entsetzt gewesen. Sie hatten ihn nämlich sofort auf den ersten Blick als das erkannt, was er war, ein dickes, gefräßiges Pony, das ihrer Tochter bald zu klein werden würde. Ein Jazzmusiker, noch dazu ein erfolgloser! Nie würde er die Blicke vergessen, mit denen sie ihn bedacht hatten, während sie um den riesigen hellen Esstisch herumsaßen in der riesigen hellen Diplomatenwohnung, von deren Wänden Ahnenfotografien herabschauten und über ihn die Köpfe schüttelten, was ihm, auch wenn er in sein Kaffeegeschirr sah, nicht entging, ihm ebensowenig entging wie die entsetzten Blicke der Gronings. Über die gesamte Zeit des Kaffeetrinkens hatte er sich das Zusammentreffen seiner Eltern mit ihren Eltern vorgestellt. Während sie am Kaffeetisch saßen und über Jazzmusik und die Situation der Kulturförderung in der deutschen Hauptstadt sprachen, hatte er sich vergegenwärtigt, dass es sich nicht vermeiden lassen würde, dass seine Eltern ihre Eltern kennenlernen würden und umgekehrt und alle vier an einem Hochzeitstischende beisammensitzen und über die Situation der Kulturförderung in der Hauptstadt sprechen würden. Und genau das löste in ihm eine innige Belustigung aus. Als dann Ansgar Groning, der große, schlanke, schöne, bärtige Mann, Kinderfotografien seiner Tochter zeigte, lachte Tom weniger über die kleine Hedda auf Dreirädern, mit Pony! ohne Schneidezähne als vielmehr über die Vorstellung jenes unvermeidbaren Elternzusammentreffens.
Worüber er so gelacht habe, wollte Hedda später wissen. Und Tom sagte es ihr.»Sie werden sich mögen«, behauptete Hedda. Aber Hedda behauptete ja auch, dass ihre Eltern ihn mochten. Wirklich mochten. Und vielleicht stimmte es sogar, vielleicht mochten sie ihn, aber entsetzt waren sie trotzdem, was er ihnen nicht verdenken konnte. Nicht alle, die man mag, würde man der eigenen Tochter als Ehemann empfehlen können, und vielleicht mag man sogar das Pony, muss es aber der Tochter, die Olympiasiegerin im Dressurreiten werden will, aus Vernunftgründen ausreden.
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