Der Winter ist wie ein weißer Atemhauch vergangen und der Frühling zurückgekehrt, als sei kein Unglück geschehen, das sich jährt, als Diedrichs Cabriolet (ein Geschenk seiner Eltern zum Studienabschluss) vor dem Haus hält. Ein Arbeitstag wie alle anderen, und Tom ist mit dem Bus zurückgekommen, läuft die sonnenbeschienene helle Hauptstraße hinauf. Er denkt nichts. Oder zu viel. Das Auto kennt er nicht. Hätte er geahnt, dass es Diedrichs Auto ist, er wäre nicht ins Haus gegangen. Er wäre ins Land hinausgelaufen, fort, immer weiter.
Er sei gekommen, ihn abzuholen, sagt ins lange Schweigen hinein Didi, der mit seinen Eltern um den Wohnzimmertisch gesessen, sich plötzlich erhoben hat, als Tom das Zimmer betritt. Sie bräuchten ihn in Berlin. Einen Pianisten — er spricht sehr leise, als glaube er selbst nicht an seine Worte — wie ihn.»Jemanden, wie dich«, sagt er mehrmals. Der Fernseher läuft ohne Ton. Tom, als er Didi gegenübersteht, sieht, dass dieser entsetzt ist. Sein Mund bewegt sich lautlos in seinem Gesicht, als müsse er etwas kauen. Silben, die er lieber hinabschluckt. Zum ersten Mal fällt Tom auf, wie dick er geworden ist. Wie furchtbar er vermutlich aussieht. Er setzt sich auf das Sofa, stellt den Ton an.»Ich werde nicht mehr Klavier spielen«, sagt er zum Fernseher.
Und so geschah es. Er hatte seinem Empfinden nach nie wieder Klavier gespielt nach Marcs Tod. Er hatte wohl die Tasten hinabgesenkt, in bestimmter Anordnung, er hatte zusammen mit Diedrichs Quartett Dienstleistungsauftritte absolviert, bei Geschäftseinweihungen, Tanzveranstaltungen für Senioren, bei Einkaufspassagenjubiläen, in Feinkostabteilungen, auf Stadtfesten, hatte, nachdem ein findiger Agent namens Jens-Christian Hepp, den man Diedrichs Beziehungen und einer gewissen blonden Diplomatentochter namens Hedda Groning verdankte, auf die Idee gekommen war, dass man» Worldjazz«, wie sie es nannten, vermarkten könne,»groß rausbringen könne«, wie er sagte, da hatte er durch das Herunterdrücken von Tasten eine Menge Töne erzeugt anlässlich von Konzerten in kleineren und sogar größeren Hallen, hatte dafür Schallplattenpreise und Geld erhalten, aber Klavier gespielt hatte er nie wieder.
«Natürlich erinnere ich mich an Betty Morgenthal.«
«Du hättest mich dalassen sollen.«
«Was?«
«Du hättest mich in Aschberg bei meinen Eltern lassen sollen.«
Diedrich betrachtete lange den Fuß seines Bierglases, lächelte ihn an, wehmütig, wie das Foto einer ehemaligen Geliebten. Plötzlich, mit einer ruckartigen Bewegung, schob er das Glas von sich, es schabte über die Chromfläche des Tresens, das Bier schwappte bis zum Rand.
«Tom Holler«, sagte er und verschob seinen Mund. Seine Augen traten heraus.»Tom Holler«, wiederholte er und schwieg, aber sein Mund vibrierte.»Wenn du nur einmal«, fuhr er fort,»ganz kurz nur, aufhören könntest, an dich zu denken.«
Nämlich gebe es, so Diedrich nach einer Pause, in der beide still auf den Fuß ihres Bierglases hinuntergeblickt hatten, gebe es viele Dinge auf der Welt, an die man zwischendurch denken könne.»Beispielsweise«, sagte Diedrich ironisch und schien zu überlegen, indem er seine Handfläche nach oben in die Luft drehte, als erwarte er Regentropfen, solle er einmal an eine Graumeise denken, als Übung, als ein Experiment, nur um zu sehen, dass sich die Welt vielleicht nicht um ihn, Tom Holler, als ihren Mittelpunkt drehe.»Dass«, so Didi,»vielleicht auch die Graumeise denkt, dass sich die Welt um sie dreht, wie wir alle denken, dass sich die Welt um uns dreht, weil wir uns selber eben nicht sehen können. «Er hatte mit zunehmender Schärfe gesprochen. Der lange Satz war in eine Spitze gemündet, die auf Toms Gesicht zielte.
«Hattest du was mit ihr?«, fragte Tom, indem er sich Diedrich zuwandte, aber die Augen lange schloss.
«Was, mit Betty?«
Statt eines Nickens schloss Tom wieder die Augen.
«Ich …«Didi zögerte. Holte sein Bierglas heran. Wieder das Schaben.»Ich kann mich nicht erinnern«, sagte er.»Kann sein, dass wir mal geknutscht haben.«
«Du kannst dich nicht erinnern?«
«Kannst du dich an alles erinnern?«
«Daran schon«, sagte Tom. Der Satz war seinem Mund entwichen, ehe er ihn hatte denken können. Er schien nicht in seinem Gehirn gebildet worden zu sein, sondern direkt auf seiner Zunge. Plötzlich dachte er tatsächlich an die Graumeise. Sie saß auf einem schwankenden Ast und öffnete den gelben Schnabel. Sie sang.
Diedrich schwieg und betrachtete ihn. Er hielt seinen Kopf schräg, leicht nach hinten geneigt, als bedürfe es eines bestimmten Winkels, einer ganz bestimmten Entfernung, um ihn richtig zu sehen, ihn scharf zu stellen oder durch die Öffnungen seiner Augen in ihn hineinzusehen. Dort verschlang die Graumeise einen Regenwurm. Gleich daneben saß Betty auf einer Picknickdecke in der Dunkelheit des Waldes.
«Wann?«, fragte Tom. Er räusperte sich, fühlte sich überführt, aber eigentlich war er es, der die Anklage erhob, nicht Diedrich.
«Was, wann?«Diedrich hatte ihn nicht aus den Augen gelassen.
«Wann hast du mit ihr geknutscht?«
«Ist das wichtig?«
«So wichtig oder unwichtig wie alles andere auch.«
Diedrich lächelte ihn an, wie man ein Kind anlächelt.»Ich weiß ja nicht mal, ob wir überhaupt geknutscht haben«, sagte er.
«Aber ich weiß es«, sagte Tom.»Sie hat es mir erzählt, sie hat gesagt, dass sie mit dir geschlafen hat.«
Diedrich senkte den Kopf, ließ ihn aber nicht aus den Augen.»Was?«
«Ich glaube, du hast mich sehr gut verstanden«, sagte Tom und konnte sich nicht erklären, wo er dieses Lehrervokabular herhatte.
Diedrich schüttelte den Kopf. Blickte scheinbar nachdenklich in die Luft und schüttelte wieder den Kopf. Die Locken hüpften. Duft von Haargel umgab ihn.»Und wenn es so wäre?«
«Wann?«, fragte Tom.
«Ich weiß es nicht, Tom. Ich kann mich ehrlich gesagt überhaupt nicht dran erinnern. Kann sein, dass wir geknutscht haben, irgendwann, in diesem Club vielleicht, keine Ahnung. Aber, hey, ich habe nicht mit ihr geschlafen.«
«Didi, ich weiß es. Sie hat es mir gesagt.«
«Dann hat sie eben gelogen. Oder sie hat mich verwechselt. Oder du hast was verwechselt.«
Tom senkte das Kinn auf die Brücke seiner ineinander verschränkten Finger. Die Graumeise zwitscherte in seinem Kopf, ihre blanken Äuglein blickten flink umher. Dann stieß sie sich von ihrem Ast ab, breitete die Flügel aus und stieg in die Luft.
«Wie sieht die Graumeise eigentlich aus? Welche Farben hat sie noch außer Grau?«, flüsterte Tom.
Diedrich hatte ihn offenbar nicht verstanden. Neigte das Ohr.
Tom aber wunderte sich sehr. Er hatte die Graumeise gesehen. Plastisch in seinem Kopf, im Wald seines Kopfes. Und dabei wusste er gar nicht, wie sie aussah. Vieles war in seinem Kopf anwesend, wie die gesichtslose Graumeise. Unzählige Fragmente seiner Vergangenheit, Wertvorstellungen, blaue, gelbe und graue Überzeugungen, Geschehnisse, Kenntnisse, aus denen sich seine Person zusammensetzte, und alle schienen sie ihm plötzlich ebenso ausgedacht wie die Graumeise, Behauptungen, Lügen, die sich mit der Zeit verstofflicht hatten und sein Ich bewohnten wie die Tiere und Bäume einen unübersichtlichen, wuchernden Wald. Er bestellte noch zwei Bier.
Das Haus in der Knaackstraße war eingerüstet, als Didi sein Cabriolet auf dem Bürgersteig parkte.»Sie renovieren es«, sagte er.»Du musst dir eine neue Wohnung suchen, die Mieter müssen alle raus«, sagte er knapp, nachdem er es die ganze Fahrt über verschwiegen hatte.
«Nein«, sagte Tom, als Didi die Fahrertür öffnete, fasste seinen Oberarm. Nicht, bitte, er wolle allein sein.
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