Natürlich nicht, dachte er im Zug sitzend. Natürlich habe ich es nicht gemeistert, ich habe es natürlich nicht ausgehalten, sondern habe mich schon nach wenigen Wochen postwendend umbringen wollen! Und auch das habe ich nicht geschafft, dachte er Erdnüsse essend, die Diedrich ihm reichte. Und ferngesehen hab ich auch. Und wie ich mich zu Silvester an meinen, an Marcs Flügel gesetzt habe und das Meisterwerk geschrieben habe, während draußen ein neues Jahr anbrach, der Himmel in Flammen, meine» Feuerwerksmusik«, die sich schon am nächsten Tag, dem Neujahrstag, als ein epigonales, von meinem einzigen Freund und Musiker Marc geklautes plagiatorisches Machwerk herausgestellt hat. Aber schön gebrannt hat es immerhin.
Und jetzt fahre ich nach Neapel, dachte er im Zug, und bin glücklich, obwohl ich eigentlich unglücklich bin. Noch vor ein paar Tagen habe ich mich umbringen wollen, und jetzt bin ich schon wieder glücklich. Ich gehe mit einer Studentin der Kulturwissenschaften durch die Museen, erleide einen Schwächeanfall, betrinke mich und schlafe mit ihr zusammen ein, ohne dass außer Knutschen irgendetwas passiert wäre, und bin glücklich. Ich bin ein versoffenes Wrack und bin glücklich. Ich denke an Hedda, die ich unglücklich gemacht habe, und bin glücklich. Ich denke an Betty Morgenthal, die ich unglücklich gemacht habe, und bin auch glücklich. Ich denke an Marc, den ich umgebracht habe, und bin glücklich. Sogar Diedrich von Jagow, wie er dort sitzt und Erdnüsse schält und wegen seiner Physiognomie an ein Maichhörnchen oder einen Aichkäfer erinnert, macht mich in diesem Moment glücklich, obwohl ich ihn noch vor einer halben Stunde unerträglich gefunden und ihm gegenüber behauptet habe, wir alle seien im Grunde unglücklich. Ich fahre nach Neapel, und sofort bin ich glücklich!
Holler staunte. Das Glück füllte ihn warm und ballonartig aus, hob ihn etwas vom Sitz empor und nahm ihm gleichzeitig den Atem.
Weil er lächelnd aus dem Fenster in einen kleinen Bahnhof hineinsah, merkte er nicht, wie Diedrich ihn musterte, wie dieser sein Lächeln zur Kenntnis nahm und sich darüber wunderte und schon wieder, kaum wahrnehmbar, den Kopf über ihn schüttelte. So fuhren sie nach Neapel.
Morgens um sieben Uhr fünfunddreißig kreuzte Betty Morgenthal mit riesiger Sonnenbrille, in der sich die vom Verkehr zerwühlte, zerrissene Stadt, die hohen Gassen, vespaumbrausten Plätze, breiten Boulevards und Passanten mit Sonnenbrillen spiegelten, die Via Toledo, den Blick geradeaus gerichtet, ungeachtet des heranbrandenden Autoverkehrs, der unmittelbar vor ihren Füßen anhielt, weil sie es nicht tat, und strebte, den Strom der Autos teilend, ans andere Ufer aus Mauern und Stein. Sie ging geradewegs auf die Plakate zu, die in breitformatigem DIN-A0-Vierfarbdruck das mare-Quartett zeigten, das am Abend im Teatro Augusteo mit seinem aktuellen Programm» Naufragio «gastierte.
Heute Abend, dachte sie und sah im Vorbeigehen, wie die vier Musiker auf dem etwas grünstichigen Foto bis zur Brust im Wasser standen, angezogen mit Anzügen, sogar mit Fliegen um den Hals. Um sie herum verteilten sich, auf der Wasseroberfläche treibend, Notenblätter und Instrumente. Da blieb sie stehen. Naufragio. Schiffbruch. Tom Holler, vor dem ein kleines Casio-Keyboard trieb, reichte das Wasser fast bis an die Schultern, er war der kleinste von allen. Er war zweifellos er.
Das Poliklinikum empfing sie freundlich mit seinen Gängen und Sälen und Türen, die sich fest hinter ihr verschlossen, was sie beruhigte. Selbst Carlo, der in einem der Flure offenbar auf sie gewartet hatte, erschien ihr beruhigend. Er hielt sie an den Handgelenken fest und zog sie durch eine offen stehende Tür in die weiße Leere eines frisch getünchten Zimmers.»Hör zu«, sagte sie zu ihm.»Hör du zu«, sagte er zu ihr. Sie schüttelte den Kopf.»Also?«, sagte sie. Aber er sagte nichts. Also sprach Betty Morgenthal. Mit vor der Brust verschränkten Armen ging sie im quadratischen Zimmer, im weißen stechenden Lackgeruch hin und her und sprach zu ihm wie zu einem Angehörigen, dessen Angehörige paradoxerweise sie selber war. Es führe zu nichts, sagte sie. Sie möge ihn, aber nicht mehr und nicht weniger. Sie sei verheiratet, wie er wisse, sagte sie, außerdem viel, viel zu alt für ihn. Sie passten nicht zusammen. Es sei ein Fehler gewesen, sich mit ihm zu treffen und alles. Sie blieb in der Mitte des Zimmers stehen und sah ihn, der flach an die Wand gepresst war, aus der Mitte heraus an. Es tue ihr leid.»Es ist frisch gestrichen, Vorsicht«, sagte sie. Sie verließ das Zimmer, warf ihm nur noch einen winzigen Seitenblick zu, der von der Größe und Dunkelheit seiner Augen abgelenkt wurde.
Du bist widerlich, dachte sie im Hinausgehen. Und während sie sich umkleidete und auch im Operationssaal, wo Carlo Vitelli glücklicherweise an diesem Tag keinen Dienst tat, da dachte sie immer wieder, du, Betty Morgenthal, bist echt widerlich.
Wenn man einander verstehen könnte, dachte sie, als sie sich im Assistentenzimmer die Hände wusch, die längst sauber waren, und in den Spiegel sah. Wenn ein Mensch einmal einen anderen wirklich verstehen könnte. Wenn man sich mitteilen könnte, einem andern. Und der einen verstünde. Aber du, sagte sie sich, verstehst ja nicht einmal dich selber.
Irgendwann am langen Nachmittag, als sie eine Schwangere für einen Kaiserschnitt intubiert hatte und die Lage des Schlauchs auf dem Monitor überprüfte, fragte sie sich, ob sie Tom je verstanden hatte oder Marc. Ob sie überhaupt irgendeinen Menschen je verstanden hatte, oder ob sie von irgendjemandem je verstanden worden war. Sie kam zum Ergebnis: Nein. Das Neugeborene schrie. Alles Reden, dachte sie, während sie sich im Vorzimmer die Hände wusch, die längst sauber waren, und in den Spiegel sah, ist nie etwas anderes gewesen als ein Übertönen des Nichtverstehens. Das Neugeborene schrie.
Die weiße große Uhr an der Wand zeigte mit ihrem Zeiger auf eine Zahl. Drei Stunden bis acht. Eine Strecke von drei Stunden trennte sie von Tom Holler. Eine Strecke, auf der sie noch abbiegen könnte, irgendwohin. Sie blieb im Vorzimmer vor dem Spiegel stehen, Hände auf das Waschbecken gestützt. Das Neugeborene schrie noch immer nebenan. Sie betrachtete die weißen Kacheln. Die bunten Aufkleber, die irgendjemand irgendwann daraufgeklebt hatte. Sie wunderte sich darüber, dass die Blumenaufkleber ihr noch nie als solche aufgefallen waren. Obwohl sie sich jeden Tag mehrere Male an diesem Waschbecken die Hände wusch, hätte sie bis heute nicht sagen können, ob und welche Aufkleber auf den Kacheln klebten.
Als die Tür aufging, wusste sie, dass es Carlo Vitelli war, der sie öffnete. Sie blieb am Waschbecken stehen und sah ihn im Spiegel auf sich zukommen. Sah, wie er eine Hand auf ihre Schulter legte, wie diese schmale, behaarte Hand sich anspannte, ihren Griff verfestigte, um ihren Oberkörper zu sich zu drehen. Und sie ließ es zu. Sie ließ sich vom Waschbecken und den Blumenaufklebern wegziehen und folgte ihm hinaus auf den Flur und durch eine Tür in eine kleine Abstellkammer, in der die Putzfrauen ihre Sachen aufbewahrten. Dort roch es nach Keller und Reinigungsmittel. Kein Fenster, etwas Neonlicht kroch aus dem Flur unter der Türritze hindurch. Betty stand an die Wand gedrückt, rechts neben ihr der Stiel eines Besens, der auf ihre Schulter kippte, als Carlo begann sie zu küssen und ihr mit der einen Hand den Pullover hinaufschob und mit der anderen ihre Hose öffnete. Ein Eimer klapperte, fiel um. Die Dämmerung lichtete sich ein wenig, da die Augen sich gewöhnten, Regale hoben sich aus der Dunkelheit, mit Flaschen darin, Putztüchern, Eimern. Ein Paar Gummischuhe. Er zog ihr die Hose herunter, ging in die Knie dabei, riss ihren Slip hinunter, und sie stieg mit einem Bein hinaus und wartete, bis er seine Hose geöffnet hatte und sie umarmte, bevor sie das freie Bein, an dem es kalt wurde, um seine Hüfte legte und er in sie eindrang. Er stöhnte und küsste ihren Hals, der nass, kühl wurde von seinem Speichel, sie aber spürte außer etwas Schmerz nichts, fand es nur unbequem auf ihrem einen Bein und dachte an Tom und Alfredo, dann an einen Krebspatienten auf der Chirurgischen, und dann an die Blumenaufkleber. Sie war froh, dass er bald kam, wofür er sich entschuldigte, was sie schrecklich fand, aber sagen, dass sie froh sei, dass es vorbei war, konnte sie auch nicht. Also sagte sie nichts, nur dass sie jetzt gehe, weil sie nach Hause müsse, denn ihr Mann erwarte sie, was nicht stimmte. Ihr Mann war nämlich in Rom. Immer war er in Rom, wenn man ihn brauchte, so kam es ihr auf einmal vor.
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