Ich sehe ihn, und er sieht mich nicht, dachte sie. Und es war dies erstaunlich, ihn, der sie nicht sehen konnte, so nah vor sich zu haben, keine zehn Meter entfernt, während sie selbst ein Teil der anonymen Menge war, die von dem sie umgebenden Publikum gebildet wurde, unsichtbar im Dunkel des Zuschauerraums. Sie war sicher. Ihr Blick aber lag auf ihm, betastete ihn ungläubig ganz, von Kopf bis Fuß, und wich erst aus und sprang zu Didis Saxofon hinüber, als sie meinte, er erwidere ihn, was aber im Scheinwerferlicht, wie sie wusste, unmöglich war. Tom setzte sich an den Flügel, wie sie ihn oft an einen Flügel sich setzen gesehen hatte, nur aus anderer Perspektive, und unter Hunderten sich an einen Flügel setzenden Pianisten hätte sie ihn erkannt, auch ohne sein Gesicht zu sehen. Die vornübergebeugten Schultern, die abwartende Haltung des geneigten Kopfes, als höre er dort im Innern bereits auf die ersten Töne, ein in sich versunkenes Dasitzen, kein Warten. Das Licht veränderte sich, zog sich zurück und kehrte wieder, von Blautönen beschwert. Tom hob das Kinn und fing Diedrichs Blick. Er spielte.
Er spielte. Er hatte es lange als sein eigentliches Unglück betrachtet, beim Spielen nichts mehr zu empfinden. Anfangs hatte er noch einen unbestimmten Schmerz gespürt, wie beim Betrachten eines Fotos oder dem zufälligen Fund des handgeschriebenen Zettels eines geliebten Verstorbenen, aber schon nach kurzer Zeit hatte sich das verloren, war in der Wiederholung abgeklungen wie unter einem Betäubungsmittel, bevor letztlich gar nichts mehr zu spüren gewesen war, weder Schmerz noch Glück, wenn er spielte. Sein Instrument, das ihm vorher ein Zauberding gewesen war, Zwitterwesen zwischen Materie und Geist, war zu einem mechanischen Gerät geworden, einem Arbeitsinstrument, mit dessen Hilfe er Geld verdiente, um sich am Leben zu erhalten, einem Leben, an dem ihm nicht besonders viel lag. Wenn er Klavier spielte, war es so, als streichle man einem Querschnittsgelähmten die Beine.
Erst als er begonnen hatte, Hedda vorzuspielen, war es anders geworden. Eine Erinnerung an die Gefühle von früher war in ihm aufgegangen. Es war, als hörte er auf das, was er spielte, durch sie, durch ihre Ohren, ihr Gehirn, und er lernte, wieder zu gehen. Zwar ging sein Musikempfinden am Stock, es hinkte und hatte nicht die überdimensionierten Flügel, die ihn als Kind oder später mit Marc, mit Betty hatten abheben lassen, über Zeit und Raum und Proberaum hinausgetragen hatten wie einen über den Himmel schießenden Segelflieger, immer höher, immer weiter entfernt von einem kleiner werdenden blauweiß marmorierten Weltkügelchen unten. Das nicht. Aber wenigstens saß es jetzt nicht mehr im Rollstuhl, das Musikempfinden, sondern es ging zu Fuß und es meldete, stach man mit einem Ton hinein oder fuhr sanft darüber, Schmerz oder ein gedämpftes Glück. Die emphatischen Ausreißer nach oben und unten aber waren verschwunden, und vielleicht, so hatte er gedacht, war es einfach das Alter, das ganz normale, allgemeine Alter, das sich von der Jugend durch ein gemindertes Gefühl unterschied, ein Umstand, den man mit den Begriffen Vernunft oder Erwachsensein oder Ernst des Lebens zu umschreiben gewohnt war.
Ein Musiker aber darf den Ernst des Lebens nicht anerkennen. Ein Musiker darf nicht erwachsen werden. Er darf nicht vernünftig sein. Aber es ist schwer, ein Kind zu bleiben. Aber es ist auch schwer, erwachsen zu werden, weil alles schwer ist im Leben. Das Leben im Allgemeinen, davon war Tom Holler ausnahmsweise überzeugt, ist schwer.
Während er am Nachmittag durch Neapel gelaufen war und eine Herrenboutique gesucht hatte, um Kleider einzukaufen, was sich als unmöglich herausgestellt hatte, weil alle Geschäfte bis sechzehn Uhr geschlossen waren, auch die Friseure, hatte er sich zum ersten Mal seit Monaten auf ein Konzert gefreut. Er würde jemandem vorspielen. Er lief an herabgelassenen eisernen Jalousien vorbei durch das trotz der Siesta lärmende Neapel, das ihn gleichzeitig erschreckte und elektrisierte und ihm auf einmal als ein Sinnbild des Lebens selbst erschien: erschreckend und grausam, verkommen und vital, schön, ungerecht und egoistisch und zum Untergang bestimmt, aber er hatte gelächelt und gedacht, dass es ihm egal sei, denn er würde für jemanden spielen. Lange Zeit stand er an einer breiten, vielspurigen Straßenkreuzung unweit des Hotels Marina am Lungomare, die er nicht überqueren konnte, weil kein Auto sich von den Lichtsignalen einer Ampel aufhalten ließ, und wartete, das unerreichbare delphingraue Meer im Blick, dessen Salzgeruch er zwischen den Autoabgasen mehr erahnte als roch, und er dachte, dass er sich zum ersten Mal seit langem auf ein Konzert freue, worüber er sich freute. Lange blieb er an der Ampel stehen und betrachtete über die Straße hinweg das Meer.
Am frühen Abend saß er in der Garderobe des Teatro Augusteo und sah viele Minuten lang unverwandt geradeaus in den Spiegel, und wieder bemerkte er nicht Diedrichs Gesicht, das rund wie ein Zifferblatt in der Scheibe stand und ihn nachdenklich betrachtete. Es sei Zeit, sagte er.
Als er in den Lichtraum der Bühne trat, war es, als komme er in ein Zimmer, in welchem jemand saß und schon lange auf ihn wartete. Sehen konnte er nichts außer dem Licht und dem blendenden Dunkel, das von ihm ausging, aber trotzdem blickte er in diejenige Region des schwarzen Raums, in der er Reihe vier vermutete. Der Applaus verklang, und die Stille wuchs an, die lebendige, gebändigte Stille vor dem ersten Ton.
Er spielte. Er spielte vor. Sie saß ihm gegenüber, die Lider halb geschlossen, in einem Sessel. Eigentlich erwartete er ihren Gesang. Mit seinem Klavierspiel errichtete er ein Zimmer, vier Wände, die er um sie beide herumzog. Aber es gab Fenster, die er spielend öffnete. Und dahinter die Landschaften, von den Morgenaufgängen durchglüht. Die Winterstille über einem See. Die Nacht mit Mond und Sternen. Und während er spielte und improvisierte, war es, als zöge er all diese Landschaften wie zweidimensionale Bühnenprospekte vor ihren Fenstern vorbei. Dann schloss er die Fenster und schlug ein Buch auf und las ihr die alten Geschichten. Ein Tango, natürlich in Moll, e-Moll (Diedrich:»You can’t beat e minor«),»T’aspetto e nove, ich erwarte dich um neun«, und während er sich immer mehr von der Grundtonart entfernte, sich vom punktierten Rhythmus löste und in freie Jazzpatterns überging, erzählte er ihr vom verzweifelten Liebhaber, der Abend für Abend, Jahr für Jahr, um neun sich an alter Stelle einfindet, um auf seine Geliebte zu warten, die längst nicht mehr kommt.
Im Dreivierteltakt berichtete er von der» Passione amara«, einer bitteren, einer ewigen, weil nie erfüllten Sehnsucht, von einer Trunkenheit, ohne je zu trinken, erzählte er ihr, indem er manchmal den Takt so sehr verzögerte, dass die Verbindung zwischen den Tönen abriss, dass sich die Stille zwischen sie schob, die bloße leere Zeit, die zu stehen, kurz Atem zu holen schien, bevor der Walzer fortfuhr, umso wilder zu tanzen, als wisse er plötzlich um diese Zeit. Und er fügte noch einen Epilog in Dur an, der die Melodielinie des Chorus in ihrer harmonischen Umkehrung wieder aufnahm, der ihm plötzlich eingefallen war und als das Zwingendste überhaupt erschien.
Diedrichs Ansagen überhörte er. Er hörte, dass das Publikum wie immer lachte, raunte, aber er wusste nicht, weshalb. Er riss die Fenster auf und deutete hinaus, zeigte ihr alles, was in diesen Liedern verborgen war, und entdeckte plötzlich Dinge darin, die er selber nicht gekannt hatte.
Zuletzt ein weites, an Beethovens Mondscheinsonate angelehntes Intro, das sich aus einer triolischen Bewegung heraus langsam steigerte, füllte, auffächerte und wie eine Meereswoge sich ballte, anstieg, aufflog und schließlich brach:»Guarda che luna, schau, was für ein Mond!«, will da jemand rufen, will es ihr zeigen, seiner Geliebten,»guarda che mare, was für ein Meer«, wem sonst als ihr, denn sie ist die Einzige, die es verstünde, dort am einsamen Strand, wo der Mensch winzig klein und kaum sichtbar ist gegen das große, ihn überwölbende Schwarz. Sie aber hört ihn nicht, den Geliebten, die blöde Kuh, denn sie hat ihn verlassen und sitzet jetzt unter der brennenden Küchenlampe und speiset jetzt zur Nacht mit einem andern. Nur das Meer hört ihn und das weiße Gesicht des gleichgültigen Mondes. Am dramatischen Schluss ein letztes Aufrauschen, ein vollgriffiger rasender Lauf von den untersten Bässen bis in den hellsten Diskant, dissonant, schrill, laut, ein Aufschrei im Innern, der aber nicht, niemals die Natur außen übertönen wird, das Rauschen und Lärmen des Meeres.
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